Roman - Leon de Winter: "Stadt der Hunde"
In den 1990er Jahren veröffentlichte Leon de Winter in schneller Folge Roman um Roman. Doch seit einigen Jahren ist die literarische Produktion des niederländischen Autors fast zum Erliegen gekommen. Es ist still geworden um den den Schriftsteller, der einst mit "Hoffmanns Hunger", "Sokolows Universum", "Serenade" und "Zionoco" die Bestsellerliste stürmte. Sein letzter Roman "Geronimo" erschien 2016 und handelte von der Jagd und der Liquidierung von Osama bin Laden durch eine US-amerikanische Spezialeinheit. Heute erscheint bei uns ein neuer Roman des inzwischen 70-jährigen Autors: "Stadt der Hunde".
Es gibt gute Gründe, warum wir fast zehn Jahr auf ein neues Buch warten mussten. Da ist zum einen seine Leidenschaft für den Film, die ihn bis nach Hollywood getrieben hat: Nach den Erfolgen mit seinen filmisch konstruierten Romanen begann er, Drehbücher zu schreiben, sich eine Zweitwohnung in Malibu zuzulegen und eine eigene Film-Produktionsgesellschaft zu gründen: Das kostet viel Zeit und Nerven. Zum anderen wurde das Trauma des niederländischen Juden, dessen Familie fast vollständig im Holocaust ausgelöscht wurde, mit der Zeit immer drückender: In seinen Romanen hat de Winter früher spielerisch mit jüdischen Themen hantiert und einen an Woody Allen erinnernden leichten, witzigen Ton gepflegt, wenn er von den Alpträumen der Überlebenden sprach und sich über antisemitische Dummheiten lustig machte. Heute ist er pessimistisch, wenn er an die Zukunft der Juden und die Existenz des Staates Israel denkt.
Schon vor 20 Jahren hat er in seinem Roman "Das Recht auf Rückkehr" eine Welt des Jahres 2024 literarisch imaginiert: Da ist Russland ein aggressives Imperium, das die Demokratien destabilisiert, Israel ist im Würgegriff palästinensischer Terroristen und hat sich in eine abgeschottete Festung verwandelt. Eine, wie sich heute zeigt, ziemlich realistische Utopie. Seit den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 ist er schockiert vom offenen Judenhass und Antisemitismus. "Ich habe nicht vorausgesehen, dass es in so vielen Städten so schnell aus dem Ruder laufen würde", sagt er, sein düsteres Fazit lautet: "Ich glaube, dass das jüdische Leben in Europa bis 2050 der Vergangenheit angehören wird."
Jaap Hollander, so heißt die Hauptfigur des neuen Romans, ist zwar ein Genie der Gehirnchirurgie, aber er kann sich Gesichter nur merken, wenn sie Ähnlichkeiten mit Hollywood-Stars haben und er sie als John Travolta oder Meryl Streep in sein lädiertes Gedächtnis einordnen kann. Das ist manchmal ziemlich komisch. Weniger komisch ist, dass Jaap, der früher so sexy war wie der junge Al Pacino, inzwischen ein, wie er von sich selbst sagt, glatzköpfiger "alter Sack" ist.
Jaap ist Sohn armer jüdischer Eltern aus Amsterdam, hat sich empor gearbeitet zum Star am Mediziner-Himmel, mit den jüdischen Traditionen seiner Vorfahren kann er nichts anfangen. Als seine Tochter Lea beginnt, sich für jüdische Rituale zu interessieren und mit 17 nach Israel reist, um sich ihrer jüdischen Wurzeln zu vergewissern, findet er das befremdlich.
Die Reise seiner Tochter wird für Jaap zu einem Schicksalsschlag, der seine Ehe und sein Leben zerstört. Denn Lea kehrt von einem Ausflug in die Wüste Negev nicht zurück. Sie ist spurlos verschwunden. Das ist jetzt zehn Jahr her. Seitdem reist Jaap immer wieder nach Israel, um nach seiner Tochter zu suchen. Dass er dabei sich selbst und sein verdrängtes Judentum neu entdeckt, liegt auf der Hand.
Eigentlich ist Jaap ein unpolitischer Mensch, den Ministerpräsidenten hält er für einen Demagogen und Populisten. Umso überraschter ist Jaap, als ihm bei einem Besuch in Israel eine Nachricht des Ministerpräsidenten überbracht wird, der ihn um einen Gefallen bittet: Die besten Gehirnchirurgen hätten ihm versichert, dass nur Jaap in der Lage sei, eine riskante Operation durchzuführen, deren Erfolgsaussichten verschwindend gering sind, die aber das Leben einer Patientin retten und der Welt den Frieden bringen könnte.
Es handelt sich um die Tochter des saudischen Prinzen, der sich als Reformer gibt, aber nicht davor zurückschreckt, seine politischen Feinde umzubringen. Noora, die Tochter des Prinzen, ist vom saudischen Königshaus auserkoren, als erste Frau den Thron zu besteigen, die Gesellschaft zu reformieren und für die Gleichheit von Mann und Frau zu sorgen.
Von Jaap, dem Sohn armer Juden aus Amsterdam, hängt es also ab, ob das an einem Tumor erkrankte Mädchen überleben und die politische Utopie umgesetzt werden kann. Das klingt alles kurios, ist aber von Leon de Winter so plausibel aus-fantasiert, dass man fast glauben möchte, der Friede in Nahost und der demokratische Wandel in der arabischen Welt könnte mit einem scharfen Messer aus dem Unfrieden der Welt und den verwirrten Köpfen der Menschen regelrecht herausgeschnitten werden.
Der Titel, "Stadt der Hunde", bezieht sich auf einen Handlungsstrang, der ins Reich der Mythen und Märchen führt. Als Jaap an der Stelle in der Wüste, an der man Leas Rucksack fand, Gedenk-Steine niederlegt, nähert sich ihm ein streunender Hund, der um Wasser bettelt.
Jaap wird den Hund in Tel Aviv wiedersehen, dort glaubt er sogar, der Hund redet mit ihm und sagt, er könne ihn, wenn er akzeptiert, dass sie nicht irgendwo ein neues Leben angefangen hat, sondern tot ist, zu Lea ins Reich der Toten bringen. Das ist natürlich pure Spökenkiekerei, eine Wahnvorstellung von Jaap, der von den herrenlos in Tel Aviv herumstreunenden Hunden verwirrt ist, auf einem Kothaufen ausrutscht, sich den Kopf böse aufschlägt, nicht mehr aus seiner Operations-Narkose erwachen mag und seinen Traum mit der Realität verwechselt.
Der wahre Alptraum kommt aber erst noch. Denn der betörend gut und vielschichtig erzählte, aber manchmal auch verstörend eigenwillige Roman läuft auf ein Datum zu, das in unser Gedächtnis eingebrannt ist: 7. Oktober 2023. Leon de Winter erspart uns die blutigen Details. Aber seitdem ist nicht nur für ihn die zivilisierte Welt in die Barbarei zurückgefallen. Viel Hoffnung, dass wir aus dem Jammertal der Krisen und Kriege herausfinden, macht der äußerst kluge und spannende Roman aber leider nicht.
Frank Dietschreit, radio3