Ursula Krechel: Sehr geehrte Frau Ministerin © Klett-Cotta
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Roman - Ursula Krechel: "Sehr geehrte Frau Ministerin"

Bewertung:

Es geht um abgründige Beziehungen zwischen Müttern und Söhnen, um die große Politik und nebenbei auch noch um eine Kulturgeschichte der Frauen bis in die Antike: Der neue Roman von Ursula Krechel ist ebenso zart wie blutig. Wir kennen Krechel als Lyrikerin, als feministische Theaterautorin und spätestens seit 2012 auch als ausgezeichnete Erzählerin, als sie für ihren Roman "Landgericht" den Deutschen Buchpreis bekam. Es war die Geschichte eines ins Nachkriegsdeutschland zurückgekehrten jüdischen Richters und der zweite Teil einer Art Trilogie über Ausgegrenzte. Jetzt also zurück zu den Frauen, um die es schon in ihren ersten Theaterstücken in den 70er Jahren ging.

Es wird blutig, so viel steht fest. Doch es ist schwer, auf den Punkt zu bringen, worum es in Ursula Krechels Roman "Sehr geehrte Frau Ministerin" geht, weil der Roman so einige Geschichten ineinander webt. Er geht weit zurück bis in die römische Antike, zu Kaiser Nero, der seine Mutter Agrippina töten ließ, als sie ihm zu mächtig wurde.

Es beginnt also mit einem Muttermord. Was kann da noch kommen? Durch allerhand gedankliche und assoziative Abschweifungen entwickelt sich die konkrete Handlung nur äußerst langsam. Nach und nach kristallisiert sich heraus: Es ist die Geschichte eines versuchten Femizids, eines Attentats auf eine Frau, die hier erzählt wird.

Ein Attentat, doch der Attentäter spielt kaum eine Rolle

Aber das Interessante und gleichzeitig Widerständige daran ist die Art, wie Ursula Krechel davon erzählt: Denn der Attentäter selbst kommt nur am Rande vor. Stattdessen rückt sie drei weibliche Figuren in den Fokus. Jede dieser Frauen ist auf ihre Weise verstrickt in die Tat, und jede steht für ein anderes Frauenbild.

Allen voran ist da Eva Patarak, sie ist Angestellte in einem Kräuterladen in Essen, wo man sich für viel Geld eine Prise Betulichkeit kaufen kann. Sie selbst kann sich hingegen höchstens im Ausverkauf mal einen Johanniskraut-Tee leisten. Aber sie ist mit wenig zufrieden und behandelt ihre Kräuter mit viel Ehrfurcht – genau wie ihren missratenen Sohn, der wiederum sein muffiges Zimmer und seinen Laptop nur verlässt, um Fleischsalat direkt aus der Plastikverpackung in sich hineinzuschlingen und der seine Mutter mit winzigen Gesprächshäppchen abspeist.

Drei Frauen und drei unterschiedliche Frauenbilder

Die Bundesjustizministerin wirkt der Kräuterfrau wie diametral entgegengesetzt. Auch sie ist Mutter, aber eine Frau von Welt, sie befindet sich im Wahlkampf, die Stimmung ist rau. Sie hat die Vision, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken. Aber – sie bekommt auch Hass-Emails und: am Ende ein Messer in den Hals.

Ja, und dann ist da noch diese Lateinlehrerin, die fast eine Art Obsession mit der Kräuterfrau entwickelt und sich am liebsten in ihrem Leben einnisten würde, um … ja, sie zu retten!?

Wer spricht?

Drei Frauen-Schicksale also, ein Attentat, und dann auch noch Kaiser Nero und seine Mutter Agrippina. Dass Ursula Krechel hier keinen guten alten allwissenden Erzähler bemüht, ist klar. Der Witz ist: Man weiß über lange Strecken gar nicht, wer diesen Roman erzählt. Die Perspektive springt leichtfüßig hin und her, nicht nur zwischen Gegenwart und Antike, sondern auch von der dritten in die erste Person, hin zu einer anderen ersten Person, mitten in der Szene. Manchmal merkt man den Subjektwechsel erst ein, zwei, drei Sätze später und fragt sich: Huch, wie bin ich jetzt hier gelandet? Und wer spricht?

Es dauert lange, vielleicht ein Drittel des Romans, bis man begreift: Die Lateinlehrerin ist es! Sie ist die, die den Roman erzählt, die den anderen Figuren ein Ich schenkt. Sie ist auch die, die im Heute die Antike durchschimmern sieht, die, die das Blut sichtbar macht – von damals wie heute.

Ein Roman zum Genießen

Ja, das ist anspruchsvoll. Und es ist blutig. Und trotzdem ist es ein Roman zum Genießen. Allein die Form ist ein Kunstwerk. Der ganze Text ist eine Art Erkundung und extrem wache Befragung in alle Richtungen – ob sie jetzt über das ausgebeutete Ruhrgebiet nachdenkt oder über den Besuch beim Gynäkologen.

Immer schwingt die Frage nach der richtigen, respektvollen – und ja, feministischen – Erzählhaltung mit. Was wird erzählt? Was nicht? Was hätte Tacitus, der römische Geschichtsschreiber, damals, vor knapp 2000 Jahren, über Agrippina erzählen können, wo er lieber Nero ins Feld geführt hat?

Poesie über die Menstruation

Es ist ein Roman, der immer wieder neu ansetzt, neu befühlt – auch sprachlich! Es ist so poetisch und gleichzeitig so eindringlich und unverstellt, wie Ursula Krechel etwa vom Menstruieren erzählt, und davon, was es bedeuten kann, die Gebärmutter entfernt zu bekommen.

Ja, vielleicht hätte eine der Frauenfiguren, die Justizministerin – also gerade die, die sich in der klassisch männlichen Sphäre bewegt – ein klein bisschen auserzählter sein können, um nicht so überschattet zu werden von den anderen beiden Frauen. Aber das ändert nichts daran: Der Roman ist gewitzt und gleichzeitig rigoros zärtlich – und genau das macht ihn so widerständig.

Sarah Murrenhoff, radio3

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