Yasmina Reza: Die Rückseite des Lebens © Hanser Verlag
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Roman - Yasmina Reza: "Die Rückseite des Leben"

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Yasmina Reza, 1959 in Paris geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin, Schauspielerin. Mit Stücken wie "Kunst" oder "Der Gott des Gemetzels" avancierte sie zur meist gespielten zeitgenössischen Theaterautorin. Mit ihren Romanen und Erzählungen verzaubert sie ein Millionenpublikum. Jetzt ist ihr neues Buch auf Deutsch erschienen: 55 kurze Prosa-Stücke, Gedanken, Erinnerungen, Skizzen, Versuche, die Kipppunkte des Lebens festzuhalten, den Augenblick zu erfassen, in dem sich alles ändert, in dem man schlagartig aus dem Alltag ausbricht, ein neues Lebens beginnt oder ein anderes Leben komplett zerstört; in dem man plötzlich merkt, dass man nie das bekommt, was man sich gewünscht hat.

Es geht um den Moment, in dem - ohne es vorher zu merken und ohne den Grund zu kapieren - die Ehe zerbricht oder man die Arbeit verliert; der Moment, in dem man glaubt, aus der Gemeinschaft ausgespuckt zu werden und jeden Halt zu verlieren, man von einer Sekunde auf die andere spürt, wie alt und grau man geworden ist und die Zeit knapp wird, sich die verdrängten Träume und Hoffnungen noch zu erfüllen. Es geht um den Augenblick, in dem man alle Regeln bricht, jeden moralischen Kompass verliert und sich selbst vollkommen fremd wird.

Kippmomente

Da sind zum einen die persönliche "Kippmomente" von Yasmina Reza, Augenblicke voller Tragik und Komik, melancholische Stimmungen, in denen sie traumverloren abtaucht, sich an Begegnungen mit längst verstorbenen Freunden und Kollegen erinnert, sich mit Bildern und Fotos auf Zeitreise begibt durch ihr Leben, das ihr selbst manchmal vollkommen unverständlich erscheint. Und dann - dagegen geschnitten wie in einem Film, in dem die Szenen nicht zusammen passen und eine zweite Ebene ins Geschehen einweben - gibt es Beobachtungen, die sie in französischen Gerichtsgebäuden macht, den Fluren, den Verhandlungssälen.

Sie skizziert knapp und präzise, was sie erlebt, wenn sie landauf, landab Strafprozesse besucht, Zeugin wird, wie unter enormem Zeitdruck und ohne jemals die ganze Tragik des Geschehens zu erfassen, Lebensgeschichten durchleuchtet und Lügengespinste aufgetischt werden, Menschen, die sich in Wahnvorstellungen verfangen haben, zu Betrügern und Mördern werden. Sie schaut den Mördern und Betrügern ins Auge, beschreibt, wie sie sich kleiden und verkleiden, sieht, wie sie sich vor krimineller Scham winden und sich als Unschuldslämmer tarnen, wie Neid und Gier die Seele der Menschen zerfrisst, wie das Gefühl, nicht anerkennt und nicht verstanden zu werden, aus Menschen wahre Monster macht.

Yasmina Reza fragt sich: Wann kippt ein Leben von der Normalität in den Wahnsinn? Warum vergiftet eine fürsorgliche Mutter ihre Kinder? Was bringt einen Mann dazu, die Familie seines Schwagers auszulöschen und die Leichen zu zerstückeln? Warum klagt eine Frau einen Mann erst der Vergewaltigung an und schreibt ihm dann trotzdem noch glühende Liebesbriefe? Wieso wird die Tochter von Einwanderern zur blindwütigen Rassistin und geht mit einem Messer auf andere Migranten los?

Auf der "Rückseite des Lebens"

Reza tippt das schicksalhafte Geschehen immer nur an, collagiert ein paar Dialogfetzen aus den Verhandlungen mit Feststellungen aus den Akten, schreibt keine Gerichtsreportagen im klassischen Sinne: Es geht ihr nicht darum, den ganzen Kriminalfall aufzudröseln, alle juristischen Fallstricke zu entwirren oder gar über Schuld und Unschuld zu entscheiden. Mit lakonischer Heiterkeit und larmoyanter Melancholie schaut sie in die verwirrten Gesichter der Angeklagten, die ihre Taten selbst nicht verstehen, lässt es als ebenso grauenhaft wie unausweichlich erscheinen, dass eine vom Leben überforderte Frau eines Tages zur Waffe greift, ihrem Mann eine Kugel in den Kopf schießt und die langsam verwesende Leiche über mehrere Wochen von einem Versteck ins andere transportiert, bis ihre Tat endlich entdeckt wird und sie nun vor Gericht erklären soll, was sie weder verstehen noch erklären kann: nämlich wie sie zu dem wurde, was sie jetzt ist und warum sie glaubt, immer auf der dunklen "Rückseite des Lebens" zu stehen.

Oratorium der Schicksalhaftigkeit

In den dazwischen geschnitten Szenen erinnert sie sich, wie sie sich mit dem todkranken Literaturnobelpreisträger Imre Kertész anfreundete und mit ihm seltsam komische Gespräche am Telefon führte, einzig getragen von Freundschaft und Verständnis, denn sie hatten keine gemeinsame Sprache: Kertész konnte sich nur auf Ungarisch und Deutsch ausdrücken, zwei Sprachen, die Yasmina Reza nicht beherrscht, trotzdem hatten sie viel Spaß miteinander. Sie erinnert sich an Luc Bondy, dem spielerischen Clown und genialen Theatermacher, der manche ihrer Stücke inszenierte, mit dem sie sich oft laut gestritten und inniglich versöhnt und in ihrer melancholischen Stimmung viel gemeinsam hatte. Auch an den Schauspieler Bruno Ganz muss sie denken, den sie manchmal in ihrer Wahlheimat Venedig getroffen hat, zufällig beim Schlendern durch die Gassen oder auf der Terrasse eines Cafés. Yasmina Reza beschreibt, wie sie, kurz vor seinem Tode, Bruno Ganz von weitem beobachtete, als er allein und in sich gekehrt auf einem Platz in Venedig saß und ins Leere schaute, und sie sich jetzt fragt, ob er da schon wusste, dass er bald, nur ein paar Tage später, sterben würde.

Diese privaten Notizen ähneln - Yasmina Reza ist Jüdin - einem Kaddish für die Toten. Es sind Gebete, die sich auf wundersame Weise mit all den Menschen, die auf der "Rückseite des Lebens" stehen, zu einem Oratorium der Schicksalhaftigkeit verbinden.

Frank Dietschreit, radio3

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