Serhij Zhadan: Keiner wird um etwas bitten © Suhrkamp
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Neue Geschichten - Serhij Zhadan: "Keiner wird um etwas bitten"

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Schreiben nach Butscha? Diese Frage wurde unter ukrainischen Autoren nach der russischen Großinvasion und nach den Massakern in Butscha und anderswo intensiv diskutiert. Auch der ukrainische Lyriker, Romanautor und Sänger Serhij Zhadan sagte im Herbst 2022 in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der russische Krieg habe ihm die Sprache verschlagen. Und doch schreibt er weiter: Jetzt sind neue Erzählungen von ihm im Suhrkamp Verlag erschienen: "Keiner wird um etwas bitten".

Sie heißen Artem, Kolja, Softie, Serhij, Wowtschyk, Walera, Bohdan, Tocha, Dina, Anna, Nadja, Armen, Mischa, Zhora, Pal Iwanytsch. Sie sind geblieben, in ihrer Stadt Charkiw, ganz im Nordosten der Ukraine, 50 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Eine Stadt unter allnächtlichem Beschuss, seit über 3 Jahren. Mit diesen Überlebenden sendet uns Zhadan Liebesgrüße aus Charkiw.

Schlaflos im Krieg

In Charkiw ist Zhadan geboren und aufgewachsen, hat die ukrainischen Futuristen für sich entdeckt und über sie promoviert, ist zum gefeierten Punksänger und international prämierten Lyriker und Schriftsteller geworden. In seinem Roman "Mesopotamien" hat er die Stadt zum Mythos gemacht, in "Internat" hat er den Nebel des seit 2014 andauernden Kriegs beschrieben und Waisenkindern ein Denkmal gesetzt.

Seit elf Jahren versorgen Zhadan und seine Freundel die Verteidiger ihres Landes mit Hilfsgütern, Ausrüstung und Songs, dazwischen tritt er mit seiner Band Zhadan i Sobaki in der ganzen Ukraine auf und sammelt Spenden, übersetzt Brecht und Celan, postet all dies auf allen Kanälen in alle Welt. Vor einem Jahr hat er sich mit den Bandmitgliedern zur Armee gemeldet. Im ehemaligen Freiwilligenbataillon "Chartija", heute die 13. Brigade der ukrainischen Nationalgarde, baut er einen Radio- und Videokanal auf. Wann Zhadan schreibt, kann man sich kaum vorstellen. Oder wann er schläft.

Stille, Schweigen

Schlafen ist ein Traum, eine Sehnsucht geworden. In einer der 12 Erzählungen treffen sich eine Frau und ein Mann in einem Charkiwer Hotelzimmer. Eine Tankstellenbekanntschaft. Beide kommen von der Front, sind tief verunsichert, vernarbt innen wie außen, brauchen immer Schlaftabletten; nur nicht diese Nacht: "Sollen wir nicht einfach schlafen? Wo wir schon die Möglichkeit dazu haben." Sie schlafen in der Wärme des anderen.

Es sind viele Arten einer vollkommen unromantischen, höchstens ironisch gelebten und doch existentiellen Liebe, die Zhadans Protagonisten in den neuen Erzählungen verbindet. Sie leben in einer eigenen Zeit, einem eigenen Licht, einer eigenen Stille: "Wir blickten uns um, warteten, wollten über nichts Schlechtes reden. Da war es natürlich besser zu schweigen."

Die Tage sind still in Charkiw, abgesehen von den Vögeln: "Ihnen hatte man nichts gesagt." Die Stadt ist leer, "wie ein Schiff, dessen Mannschaft für immer an Land gegangen war"; "wie ein Haus, aus dem eine große, ewig streitende Familie ausgezogen ist"; "wie ein Fußballfeld im Winter"; "ein leerer Musikinstrumentenkoffer".

Licht auf Messers Schneide

Artem, Kolja, Softie und die anderen sind auf sich gestellt, sorgen füreinander und ihre Stadt, als wäre auch sie ein versehrtes Familienmitglied, das man keinesfalls allein lassen kann. Die einen als freiwillige Helfer, die anderen als Soldatinnen und Soldaten, als Mütter, Väter und Kinder, die sich fremd geworden sind in den drei unendlichen Jahren des Kampfes. Die ihre Wut und Verzweiflung unterdrücken, um einander nicht wehzutun. Ein alter Lehrer zieht in die zerbombte Schule ein; die Schüler, die ihn so wenig leiden können wie er sie, schenken ihm ein neues Smartphone; er trauert um die Flügel in der Aula, die "schwer, dunkel, wie verletzte Tiere" sind. Am Grab eines Soldaten erkennt die Witwe unter allen Trauergästen die allein dastehende Geliebte des Mannes aus seiner Armeeeinheit und schaut sie nur an "mit ihrem trockenen Kohleblick, der nicht auszuhalten ist". Zhadan umgibt seine Figuren mit viel Wärme und Licht, mit Tagen, an denen "die Zeit innehält wie ein Lichtstrahl auf der Schneide eines Messers".

Die Würde der Kinder

Was bleibt von dieser "verdammten Frühlingssonne", von "der leeren Stadt, die durchschossen wird wie ein Stapel Papier"? Es bleiben diese atemberaubenden Erzählungen, in denen – auch in der Übersetzung von Sabine Stöhr und Juri Durkot – kein Wort zu viel und keines zu wenig steht.

In seinem Kriegstagebuch "Himmel über Charkiw" war der Satz, "dass die Sprache stärker ist als die Angst des Schweigens", noch Behauptung, Hoffnung und Versprechen. Mit seinen neuen Geschichten löst Serhij Zhadan sein Versprechen ein. Er bleibt Augenzeuge und Autor, der die Stadt als zerschossenes Papier zu erkennen gibt, in seinen Texten, die keiner töten kann.

Es bleiben unvergessliche Augenblicke: Das Foto einer verstorbenen Ukrainischlehrerin als Kind, "ganz jung und ganz arm", "geboren im Krieg, gestorben im Krieg." – "Man konnte sich an nichts festhalten als an ihr selbst, an ihrem Blick". – Diesem Blick aus der ersten Erzählung begegnen wir in der letzten wieder, in der Artem und Softie einer Gruppe elternloser Kinder irgendwo am Stadtrand Hilfsgüter bringen: Kinder, die einander auf dem Schoß halten. "Ganz jung. Ganz arm." Pampers weisen sie strikt zurück. Sie bitten um nichts. Sie haben nur noch einander, ihre Würde und eine völlig unklare Zukunft. Ihr Blick richtet sich auf uns: Würde hat, wer die Würde der anderen zu retten versucht. Sind wir dazu bereit?

Natascha Freundel, radio3

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