Karl Ove Knausgård: Die Schule der Nacht © Luchterhand
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Roman - Karl Ove Knausgård: "Die Schule der Nacht"

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Karl Ove Knausgård gilt - neben Literaturnobelpreisträger Jon Fosse - als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen autofiktionalen Werkes "Min Kamp/Mein Kampf" wurden weltweit zur Sensation, in 35 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Knausgård ist auch Kunstexperte, war Kurator einer Edvard-Munch-Ausstellung in Oslo und verfasste ein Buch über Anselm Kiefer. Heute erscheint sein neuer Roman: "Die Schule der Nacht" ist der vierte Teil der auf sieben Bände angelegten "Morgenstern"-Serie.

Die einzelnen Romane stehen für sich, Personal und Orte, an denen die Figuren im Sumpf aus Wahnvorstellungen und Gewaltfantasien versinken, wechseln. Nur das Grundthema blieb bisher immer gleich: Am Himmel erscheint ein neuer Stern, der unheimliche Kräfte freisetzt, physikalischen Regeln sprengt und die Menschen verunsichert, verwirrt und verändert.

Die Wissenschaft hat keine Erklärung, sicher ist nur, dass etwas Böses geschieht und die Frage im Raum steht, ob der Mensch Moral und Gesetz brauchen darf, um Großes zu schaffen, vielleicht sogar den Tod zu überwinden und das ewige Leben zu erreichen.

Hommage an den "Faust"-Mythos

Die Versuchung des Bösen war bisher an den unerklärlichen "Morgenstern" geknüpft. Doch das ist diesmal anders: "Die Schule der Nacht" öffnet die Tür zu einem anderen, neuen Erzähl-Kosmos, das dem kultur- und literaturgeschichtlich bewanderten Leser aber doch ziemlich bekannt vorkommt. Die Rolle der unerklärlichen Macht, die aus harmlosen Menschen gewalttätige Monster und aus normalen Zeitgenossen geniale Überflieger macht, übernimmt jetzt der allgegenwärtige Teufel, der grinsende Mephisto, der nur hervor kitzelt, was in uns wohnt und nach außen strebt.

"Die Schule der Nacht" liest sich wie eine Hommage und Referenz an den zeitlos-aktuell durch die Kunst- und Literaturgeschichte wabernden Faust-Mythos. Aber Knausgård, der seit einigen Jahren in London lebt, interessiert sich weniger für Goethe und seinen "Faust" als für den Luftikus Christopher Marlowe und sein Drama über "Die tragische Historie vom Doktor Faustus".

Eine verschwörerische Botschaft

Ich-Erzähler Kristian, ein nach dem künstlerischen Kick suchender norwegischer Fotograf, der in London die Kunstakademie besucht, begegnet, von diabolischer Hand gesteuert, Vivian: eine Theaterregisseurin, die gerade mit ihrer Truppe den "Faustus" probt und Kristian bittet, zur Inszenierung eine Fotostrecke über Marlowe beizusteuern, dem Abenteurer und Wüstling, den manche für den eigentlichen Autor der Werke von Shakespeare halten.

Kristian lernt Vivian durch Hans kennen, ein kauzig-verlotterter Künstler, der in einer rumpelkammerartigen Werkstatt, die mehr einer alchimistischen Höhle als einem Atelier gleicht, Experimente mit Computer gesteuerten Wesen durchführt. Hans findet die Fotografien von Kristian läppisch und stachelt ihn an, Neues zu wagen und die Grenzen der Wahrnehmung zu überschreiten. Scheinbar ganz beiläufig weist er auf das erste Foto der Kunstgeschichte hin, das für viele Betrachter bis heute ein großes Rätsel geblieben ist. Das Foto hat Louis Daguerre 1839 in Paris mit minutenlanger Belichtung gemacht, so dass alle über den Boulevard du Temple eilenden Menschen unsichtbare Schatten sind: bis auf den einen dünnen Mann, der regungslos verharrt und sich die Schuhe putzen lässt - und den manche für den Teufel in Menschengestalt halten.

Es ist exakt jene Fotografie, die benutzt wird, Kristian eine verschwörerische Botschaft zukommen zu lassen: "Wer tot ist, ist tot und kann nicht gerettet werden. Wähle das Leben, Kristian, und es wird dir gut ergehen."

Das hat jemand auf die Rückseite der alten Fotografie gekritzelt und in das Zimmer von Kristian geschmuggelt, der unbedingt mit seinen Bildern die Kunstwelt erschüttern und das Genre revolutionieren will.

Im Bunde mit dem Teufel

Um das erreichen, stilisiert er sich zum Menschenfeind, sucht schockierende Bildmotive, will die Essenz des Lebens einfangen, kocht und skelettiert dafür sogar er eine Katze. Einen Obdachlosen, mit dem er nachts in Streit gerät, versetzt er einen tödlichen Schlag. Doch jemand hat ihn bei seiner nächtlichen Untat beobachtet und bietet ihm mit der anonymen Fotobotschaft einen faustischen Bund an, will schweigen und helfen, wenn Kristian bereit ist, dem Teufel zu huldigen, das Gute mit dem Bösen zu erkaufen und einen Preis für seinen auf Missetaten basierenden Erfolg zu zahlen.

Im Bunde mit dem Teufel wird Kristian zwar von den polizeilichen Ermittlungen befreit und in den siebten Himmel der Kunstwelt befördert. Dass aber der Abgrund immer nur einen Schritt entfernt ist und der Himmel sich unversehens in die Hölle verwandeln kann, muss Kristian erst noch schmerzlich am eigenen Leib erfahren.

Gedankliche Endlosschleifen und emotionaler Müll

Knausgård liebt die ganz großen Erzählbögen und ist von einer bis ins letzte Detail gehenden Beschreibungswut besessen. Akribisch beschreibt Kristian, welche Musik er mag und wie er seine Schallplatten sortiert, sich Kaffe zubereitet, Dosensuppen löffelt, sich sinnlos betrinkt, durch London radelt. Ein permanenter Gedankenstrom über die Mühen des Alltags und die Sehnsucht nach Genialität, langatmiges Gejammer über sein schweres Schicksal, das ihn schließlich ereilt und aus dem hellen Schein der Kunstwelt auf eine felsige Insel hat flüchten lassen: Das zerrt an den Nerven und strapaziert die Geduld. Hunderte Seiten müssen wir ausharren, bis Kristian, der auf Vergebung und Erlösung hofft, endlich begreift, was wir alle doch längst wissen: Der Teufel, das sind wir selbst. "Die Hölle ist hier", muss Mephisto nach dem finalen Höllensturz Kristian belehren, der auch noch im Unglück unausstehlich und unsympathisch bleibt: ein notorischer Lügner, widerlicher Frauenverächter, weinerlicher Narzisst. Gäbe es nicht die klugen Ausflüge in die Geschichte der Fotografie, die ironischen Spiele mit Marlowe und Shakespeare: die gedanklichen Endlosschleifen und der schauderhafte emotionale Müll, den der Erzähler bisweilen auskippt, wäre manchmal kaum zu ertragen.

Frank Dietschreit, radio3

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