Caroline Darian: Und ich werde dich nie wieder Papa nennen © Kiepenheuer & Witsch
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Die Tochter von Gisèle Pelicot - Caroline Darian: "Und ich werde dich nie wieder Papa nennen"

Die Scham muss die Seite wechseln. Dieser Satz von Gisèle Pelicot ist um die Welt gegangen. Wir kennen sie als feministische Ikone im Vergewaltigungsprozess von Avignon gegen ihren Ex-Mann und die 50 weiteren Angeklagten. Ihre Tochter, Caroline Darian, zeigt einen Blick hinter die Kulissen der zerstörten Familie.

Man könnte meinen, Caroline Darian spreche ihren Vater direkt an. "Und ich werde dich nie wieder Papa nennen", heißt ihr Buch, das in Frankreich schon 2022 erschienen ist, im Rest der Welt erst jetzt, nach Ende des Jahrhundertprozesses. Dabei habe sie ihrem Vater – ihrem Erzeuger, wie Darian ihn nur noch nennt – absolut nichts mehr zu sagen. So sagt sie es der Untersuchungsrichterin.

Bis Caroline Darian 42 wurde, glaubte sie, ein im besten Sinne des Wortes "banales" Leben zu führen, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben. Mit einer Mutter, die beim Tanzen auf der Terrasse die Arme um den Hals ihres Mannes schlingt – nach 50 Jahren verliebt wie am ersten Tag. Mit einem Vater, der seinem Enkelsohn das Schwimmen beibringt und mit ihm Radtouren macht.

Liebevoller Vater und Sexualverbrecher

Dieses Bild eines "liebevollen Vaters" sei "immer noch tief in ihr verankert" und "ihr Lebenshintergrund". Und das bekommt sie partout nicht übereinandergelegt mit dem schweren Sexualverbrecher, der ihre Mutter über Jahre betäubt und vergewaltigt sowie fremden Männern bewusstlos zur Vergewaltigung ausgeliefert hat.

Ihre Identität wurde ihr entrissen. Und deshalb fängt sie an zu schreiben. Zunächst einmal nur für sich selbst. Es ist ein Tagebuch des ersten Jahres, angefangen mit dem 2. November 2020 – dem Tag, an dem Darian den Anruf von ihrer Mutter, Gisèle Pelicot, bekommt, die ihr sagt, dass ihr Vater gerade festgenommen wurde, weil er die Mutter zigfach unter Drogen gesetzt und im Ehebett von fremden Männern hat vergewaltigen lassen.

Fotos der halbnackten Tochter tauchen auf

Ab dann überrollt sie alles. Die Erinnerungsfetzen: Caroline Darians Bruder erinnert sich, wie seine Mutter bei einem Abendessen, kurz bevor er und seine Frau abgereist sind, einfach in sich zusammengeklappt war, und der Vater das abgetan hatte mit der Formel, dass der Besuch des Sohnes sie zu sehr angestrengt habe, das passiere ihr ab und zu, wenn ihr alles zu viel werde.

Es kommt die Fahrt zu Gisèle Pelicot, die 700 Kilometer entfernt wohnt. Der Gang zur Polizei, die nur 48 Stunden Zeit hat, um Beweise zu sichern. Der Anruf, dass sie, Caroline Darian, doch bitte noch mal zur Wache kommen solle: Auf dem Laptop ihres Vaters wurden weitere Fotos gefunden. Von der Tochter – halbnackt schlafend oder eben bewusstlos – und sie erkennt sich nicht wieder, weder ihre Position noch die Unterwäsche, die sie trägt.

Caroline Darian glaubt, das zweite Opfer ihres Vaters zu sein

Aus dem Prozess, der im Dezember 2024 zu Ende gegangen ist, wissen wir: Dominique Pelicot hat bis zuletzt bestritten, seine Tochter angefasst zu haben. Caroline Darian bezeichnet sich auch als "die Vergessene des Prozesses", aber es fehlen Beweise und es gibt auch keine Erinnerungen. Doch für sie selbst scheint die Sache Seite um Seite klarer zu sein: Sie glaubt, auch betäubt worden zu sein. "Sein zweites Opfer war ich", schreibt sie.

Wenn es etwas Tröstendes gibt an diesem Prozess, dann die Vorstellung: Die, die von der Familie übrigbleiben, halten zusammen, kompromisslos. Gisèle Pelicot Seite an Seite mit ihrer Tochter und ihren zwei Söhnen. So das öffentliche Bild.

Riss zwischen Mutter und Tochter

Wer dieses Buch liest, muss sich darauf einstellen, sehr viel Kaputtes und Unfertiges mitzubekommen. Caroline Darians Buch führt vor Augen, wie sehr ein solches Verbrechen das ganze System Familie zerstören kann. Es tut weh, Zeugin dessen zu werden, wie die Taten es schaffen, Mutter und Tochter zu entzweien – so weit, dass sie sogar getrennt Weihnachten feiern.

Während Caroline Darian schreit, schreibt, zusammenbricht und alles kurz und klein schlagen möchte, sucht Gisèle Pelicot Abstand zu den Gefühlsausbrüchen ihrer Tochter und versucht sogar, ihren Mann in Schutz zu nehmen. "Du vergisst, dass er nicht immer dieser Teufel war, als den du ihn darstellst", so zitiert Caroline Darian ihre Mutter. "Er hat viel für dich getan, aber auch für deine Brüder. Ich war glücklich mit ihm. Ich habe ihn so sehr geliebt. Ich möchte lieber die guten Momente in Erinnerung behalten. Der Rest bringt mich nicht weiter, ich will weiterleben. So bin ich nun mal."

Gisèle Pelicots Momente der Schwäche

Das ist schwer zu ertragen. Und doch: Es ist zu bequem, Gisèle Pelicot nur als aufrechte Heldin zu denken. Beim Lesen verspürt man oft den Impuls, aus Anstand lieber wegzuschauen. Man wünscht sich, nicht zu erfahren, dass Gisèle Pelicot ihrem Mann sogar ins Gefängnis noch eine Tasche mit warmer Kleidung bringt.

Schwer vorstellbar, dass Gisèle Pelicot das Buch ihrer Tochter, als es 2022 in Frankreich erschienen ist, gut geheißen hat. Vorstellbar ist aber, dass sie es inzwischen zumindest akzeptiert hat, weil sie ihrer Tochter – so zitiert Darian sie im Vorwort, das kurz vor Prozessbeginn geschrieben wurde – dankt für ihren öffentlichen Kampf für die Opfer "chemischer Unterwerfung" und ihr verspricht, ihr das beste Beispiel für diesen Kampf zu liefern.

Lücke zwischen zerrissener Frau und aufrechter Heldin

Und wenn man die eigene Betretenheit einmal beiseite lässt, scheint es auch nur konsequent. Wenn andere Frauen wirklich den Mut finden sollen, Gisèle Pelicots Weg zu gehen, wenn sie will, dass sich andere Opfer mit ihr identifizieren, dann ist es nur konsequent, alles offenzulegen. Auch die Zerrissenheit und die Manipulation und die Momente der Schwäche.

Wenn an diesem Buch etwas bedauerlich ist, dann das: nicht den weiteren Weg der Heldinnenwerdung erzählt bekommen zu haben. Die Lücke, die klafft zwischen der zerrissenen Frau und der aufrechten Heldin, als die wir Gisèle Pelicot kennengelernt haben, tut weh.

Sarah Murrenhoff, radio3

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