Jens Balzer: After Woke © Matthes & Seitz Berlin
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Ansichten zur "Wokeness" - Jens Balzer: "After Woke"

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Jens Balzer ist Autor im Feuilleton der ZEIT. Als Musikkritiker und Beobachter kulturpolitischer Phänomene hat er oft die ideologischen Irrwege "kultureller Aneignung" untersucht. Jetzt greift er in die Debatte um den von Rechtspopulisten verdammten Begriff der "Wokeness" ein und untersucht das von reaktionären Kräften beschworene Ende eines "woken", von Achtsamkeit und Vielfalt, Solidarität und Mitgefühl geprägte Lebensgefühls. In "After Woke" analysiert er Geschichte, Gegenwart und Zukunft eines von postkolonialen und queerfeministischen Theorien befeuerten Weltbildes, das gegen rassistische, homophobe und misogyne Diskriminierungen Einspruch erhebt.

Es ist eine Abrechnung mit den politischen Verirrungen und ideologischen Irrwegen der "woken" Linken, die gerade dabei ist, sich von ihren Grundprinzipien zu verabschieden und sich von politischen Bewegungen vereinnahmen lässt, die das Gegenteil von dem wollen, was die "woke" Community eigentlich anstrebt, Bewegungen, die Terror und Tod propagieren und von Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Solidarität mit Opfern sexistischer Gewalt und rassistischer Diskriminierungen nichts halten und alles, was nach Freiheit und Rausch, Diversität und Toleranz riecht, als westliche Dekadenz und intellektuelle Marotte einer ökonomisch verwöhnten Jugend verlachen.

Der 7. Oktober 2023: ein Zivilisationsbruch

Balzer erklärt ausdrücklich, dass er lange glaubte, in der "woken" Community eine intellektuelle und politische Heimat gefunden zu haben. Umso tiefer sitzt für ihn der Schock über das fehlende Mitgefühl der linken "woken" Community mit den Opfern des von der islamofaschistischen Terrororganisation Hamas verübten Massakers vom 7. Oktober 2023: ein Zivilisationsbruch, bei dem die Werte der Humanität sich in Asche verwandelten.

Wie gefühllos die woke, queerfemistische und postkoloniale Linke auf diesen Akt der Unmenschlichkeit reagierte, ist für Balzer ein "moralischer Bankrott", der alles infrage stellt, was "Wokeness" ausmacht, die damit jeden Anspruch auf moralische Autorität und politische Glaubwürdigkeit verwirkt hat.

Moralischer Bankrott

Er macht den "moralischen Bankrott" fest am Schweigen der "woken" Community, der fehlenden Empathie mit den Opfern, dem Antisemitismus und der völligen Fehleinschätzung der Tragweite dessen, was die "lachenden Täter" angerichtet haben, gegen wen sich ihre Mordlust richtet und was sie erreichen wollen. Balzer beschreibt das schiere Grauen und das massenhafte Morden, das sich an diesem Tag ereignete, wie die Mörder Jagd auf junge Menschen machten, die ausgelassen auf einem Trance-Techno-Festival tanzten, wie sie die jüdischen Siedlungen durchkämmten, ihre Untaten mit Bodycams filmten und ins Internet stellten, Frauen die Kleider vom Leib rissen, vergewaltigten und verstümmeln, Babys abschlachteten und unzählige Geiseln nach Gaza verschleppten, folterten und töteten.

Balzer erinnert die "woke" Community daran, dass sexualisierte Gewalt ein bevorzugtes Mittel der Terroristen ist, die ihre Opfer entmenschlichen wollen, dass der geschundene Körper der Frau symbolisch für den Körper des Staates und die Bewohner Israels steht, die man vernichten will. Er erinnert daran, dass die Terroristen sich immer wieder Orte für ihre Massaker aussuchen, an denen in ihren Augen westliche Dekadenz herrscht: das pulsierende Bataclan in Paris, ein queerer Club in Florida, ein Teenie-Pop-Konzert in Manchester: Die Täter wollen nicht das Leben feiern, sondern den Tod.

Wenn Mitglieder der "woken" Linken nicht mit den Opfern leiden und nicht zur Solidarität aufrufen, sondern die Mörder und ihre Taten verherrlichen, wenn "Queers for Palestine" sich für ein misogynes und homophobes islamistisches Regime engagieren, wenn die prominente britische Trans-Frau Munroe Bergdorf das Massaker als gelungenes "Beispiel für einen revolutionären Kampf" preist und DJ-Superstar Juliana Huxtable, eine nicht-binäre Symbolfigur des "woken" Techo, das Morden als palästinensische "Gegenwehr" gegen die israelische "Apartheid" bezeichnet, dann zeigt sich für Balzer hier eine eine politische "Doppelmoral" und eine ideologische "Verblendung", die man kaum nachvollziehen kann.

Gefährliche Allianzen

Um zu verstehen, was falsch gelaufen ist, will Balzer zu den Ursprüngen, findet zwar Bücher und Pamphlete, die zu einer Generalabrechnung mit einer "woken" Minderheit aufrufen, die die Mehrheit angeblich mit Sprach- und Denkverboten traktiert. Doch nirgendwo findet er Texte, in denen die "woke" Idee bündig ausformuliert ist.

Das erste Mal taucht der Begriff 1938 in einem Song eines Schwarzen Folk-Sängers auf, der nach Erfahrungen mit der weißen Klassenjustiz alle Schwarzen davor warnt, nach Alabama zu kommen: Man müsse dort besonders "woke", also besonders wachsam sein, wenn man als Schwarzer überleben wolle. "Woke" wird zum geflügelten Wort in der Schwarzen Kultur, bedeutet, wachsam zu sein gegenüber allen Gefahren, sich ständig weiter zu entwickeln, in Bewegung zu bleiben.

Doch mit der linksradikalen "Black Panther Party" und der fundamentalistischen "Nation of Islam" wurde "woke" umgedeutet, teilte sich die Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse, waren die Juden für alles Böse verantwortlich, machte man sie zum Sündenbock: So gingen "Wokeness", Antikolonialismus und und Antisemitismus eine gefährliche Allianz ein. Im postkolonialem Weltbild der "woken" Linken werden alle Juden als privilegierte weiße Menschen betrachtet und an die Seite der Unterdrücker und Kolonialisten gestellt. Das Schweigen vieler Linker zu den Massakern der Hamas, die Beschönigung der Morde als "gerechtfertigte Gegenwehr" einer "Befreiungsgruppe" gegen den "israelischen Kolonialismus" ist für Balzer Ausdruck einer Weltsicht, die sich von allen geschichtlichen Tataschen verabschiedet hat, von Menschen, die ihre Hoffnungen auf sogenannte Befreiungsbewegungen projizieren, die vieles erreichen wollen, aber keine demokratische Gesellschaft, in der jeder nach seiner Falcon glücklich werden und die Nächte ausgelassen durchtanzen kann.

Radikale Selbstkritik ist notwendig

Den "moralischen Bankrott" kann die "woke" Linke nur überwinden, wenn sie bereit ist, sich einer radikalen Selbstkritik zu stellen, sich von allen Dogmen zu lösen, sich im Sinne von Jürgen Habermas auf einen "herrschaftsfreien" Diskurs einzulassen. Wenn sie sich auf ihre ursprünglichen Impulse besinnt: auf die fundamentale Kritik aller politischen, religiösen und ideologischen Heilsversprechen, bereit ist, sich von simplen Schwarz-Weiß-Mustern fern zu halten.

Die "woke" queerfeministische und postkoloniale Linke muss wieder begreifen, dass sie von allen Spielarten autoritären Denkens bedroht wird, sie darf nicht jede Kritik am politischen Islam als "antimuslimischen Rassismus" abtun, muss Judenhass und Antisemitismus überwinden, sich von Heuchlern verabschieden, die ihren eigenen Opferstatus über den der anderen stellen. Nur wenn Identität als fiktiv, fragil, fluide begriffen wird, könnte "Wokeness" wieder "zu einem dringend benötigten (utopischen) Gegenentwurf werden zu den reaktionären Kräften des identitären Denkens, die sich gerade anschicken, die Herrschaft über die Welt zu übernehmen."

Leicht gesagt, doch schwer getan.

Frank Dietschreit, radio3

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