Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock © C.H. Beck
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Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute - Ilko-Sascha Kowalczuk: "Freiheitsschock"

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Ilko-Sascha Kowalczuk gehört zu den wichtigsten deutschen Zeithistorikern. Seit vielen Jahren engagiert er sich für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Nun hat er ein neues Buch geschrieben, aus großer Sorge um unsere Demokratie. "Freiheitsschock. Eine andere Geschichte der Ostdeutschlands von 1989 bis heute".

"Das macht man so" – "Das macht man nicht". Das waren, soweit ich mich erinnere, häufige Sätze in der DDR. Bezogen auf das alltägliche Kleinklein: Nachbarn grüßen, Frisur, Klamotten – oder das große Ganze: politisches Denken, Sprechen und Handeln. Wer sich nicht anpasste, wurde sanktioniert. Ich fürchte diesen Ordnungs- und Kontrollwahn noch immer, und muss mich manchmal daran erinnern, dass heute und hier jede nach ihrer Fasson glücklich werden darf: Welch ein Glück!

Freiheit verstehen

Mit "Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute" hat der Zeithistoriker Ilko-Sascha Kowalczuk ein brennend wichtiges, schmerzhaftes Buch geschrieben, das den Homogenitätsfetisch der DDR in einen großen historischen Zusammenhang stellt und seine Nachwirkungen bis heute erklärt. Die zentrale These: Viele Ostdeutsche haben die Freiheit weder erkämpft noch verstanden, bis heute. Anti-liberale, anti-demokratische Kräfte ernten mit wachsenden Erträgen, was vor langer Zeit tief gesät wurde: das Verlangen nach einem starken, autoritären, ethnisch-kulturell-politisch-homogenen Staat mit harter Kontrolle und harten Grenzen; der Wunsch, alles Nicht-deutsche, Unangepasste, vermeintlich Fremde auszumerzen. Die Sehnsucht nach reinweißen blühenden Landschaften.

Eine andere Perspektive auf den Osten

Wer Kowalczuks bisherige Bücher, Artikel, Social Media Posts kennt, könnte sagen, das habe er doch X-mal erklärt. Doch nach dem erstaunlichen Erfolg von Dirk Oschmanns Streitschrift "Der Osten – Eine Erfindung des Westens" und dem zunehmenden Trend, die DDR weichzuzeichnen, ist Kowalczuks langer Essay eine grundsätzliche Intervention, an der niemand vorbeikommt, der die deutsch-deutschen Verhältnisse verstehen möchte.

Anders als Steffen Maus aktuelles Buch "Ungleich vereint", das ebenfalls als Antwort auf Oschmann gelesen werden kann, bleibt Kowalczuk nicht bei den sozialen Verwerfungen seit 89/90 stehen (die hat er ausführlich in seinem Buch "Die Übernahme" 2019 thematisiert). Das Kontrastmittel, mit dem Kowalczuk die jüngere deutsche Geschichte untersucht, heißt Freiheit. Da ist er radikal: entweder man steht zur Freiheit oder nicht, wie man zur Wahrheit von 1+1 steht. Wie Universalismus ist Freiheit ein absoluter, radikaler Begriff, dessen Lebensrealität aber kein Utopia, sondern menschliche Möglichkeiten, rechtliche Regelungen und Kompromissfähigkeit bedeutet. Eben diese Freiheit ist heute in Gefahr, wenn anti-freiheitliche Kräfte die nächsten Wahlen oder die gegenwärtigen Kriege gewinnen. Warum nur wird Freiheit im allgegenwärtigen Talkshowbusiness so selten thematisiert?

Unbequeme Analysen

Kowalczuk hat einige unbequeme Analysen parat, die niemanden, ob "Ossi", "Wessi" oder den Autor selbst, verschonen. Die Revolution wurde nicht von "den Ossis" gemacht, nur von einer Minderheit freiheitsliebender Dissidenten, die bald schon von ihrer Revolution nicht gefressen, aber doch an den Rand der Zeitläufte gedrängt wurden. Die Mehrheit der Ostdeutschen wünschte sich Wohlstand wie im Westfernsehen. "Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten in Nordrhein-Westfalen auf", formulierte es Joachim Gauck im Jahr 2000. Die Leute in Nordrhein-Westfalen oder anderswo im Westen wiederum interessierten sich herzlich wenig für die Leute in Thüringen oder anderswo im Osten. Ausnahmen bestätigen die Regel: Eine intensive, gesamtgesellschaftliche, politisch-kulturelle Aufklärung der DDR-Diktatur steht auch bald 35 Jahre nach dem Mauerfall noch immer aus.

Die Linke, BSW, AfD, Putin etc.

Unbequem, wenn auch nicht neu, aber überzeugend in Kowalczuks unverblümt-nüchterner Darstellung sind auch die Abschnitte zur Entwicklung der SED-PDS-Die Linke-Partei, zum Bündnis Sahra Wagenknecht und zur AfD. Bei der politischen Gretchenfrage: "Wie hältst Du’s mit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine?" werden sie alle als Kremlkumpel kenntlich, denen die geopolitischen Interessen Putins und der traditionsreiche Antiamerikanismus weitaus wichtiger sind als die staatliche Souveränität und der Freiheitsdrang der Ukraine.

Zur Freiheit erziehen?

"Wie aber kann man Freiheit in der Freiheit erlernen?" ist die Frage, die Kowalczuk der offenen Gesellschaft überlässt, weil er selbst keine Antwort parat hat und weil auch das immer neu demokratisch ausgehandelt werden muss. Vielleicht stimmt Kowalczuks Einschätzung als Historiker, "dass die Welt noch nie in einem besseren Zustand war". Doch anders als er meint, wird vermutlich der Hunger zunehmen, die Zahl der Kriege, die der Naturkatastrophen. Auch deshalb brauchen wir dringend einen "öffentlichen Freiheitsdiskurs".

Natascha Freundel, radio3

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