Clemens Meyer: Die Projektoren © S. Fischer
S. Fischer
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Roman - Clemens Meyer: "Die Projektoren"

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Männer in Ostdeutschland und immer wieder Gewalt sind die Themen, die den Leipziger Autor Clemens Meyer in seinen preisgekrönten Romanen beschäftigen. Schon sein Debüt "Als wir träumten" wurde 2006 als literarische Sensation gefeiert. Eine Geschichte über eine Jugend in Leipzig zwischen Drogen, Kriminalität und Gewalt, die später von Andreas Dresen erfolgreich verfilmt wurde. Gewaltig ist auch sein neuer Roman "Die Projektoren": er ist über 1.050 Seiten dick und spannt einen großen Bogen von der DDR bis nach Jugoslawien, vom Zweiten Weltkrieg ins Heute, vom Kino-Saal zum Groschen-Western.

Dieser Roman ist nicht nur dick wie ein Ziegelstein, man läuft beim Lesen auch Gefahr, von ihm erschlagen zu werden. 1.050 Seiten wiegen exakt 1050 Gramm, so dass man allein körperlich zu tun hat, stemmt man beim Lesen doch jedes Mal ein Kilo hoch. Aber auch intellektuell ist dieses Buch ein Brocken - ach was, ein Berg - nein: eher ein Bergwerk. Man gräbt sich vorwärts und hat manchmal das Gefühl, das Licht nicht mehr zu sehen.

Clemens Meyer türmt Erzählstränge, Zeitschichten, Figuren, formale Spielereien, literarische und filmische Verweise, Schauplätze und Themen auf. Er will dabei nicht weniger, als das Wesen und die Ursprünge von Gewalt und Krieg zu erkunden.

Der Bogen ist weit gespannt

In seinen Romanen hat Clemens Meyer oft ostdeutsche Abgründe erkundet. Der Autor, Jahrgang 1977, ist in Leipzig aufgewachsen, wo er heute immer noch lebt. Jetzt, so kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, schauen natürlich alle wieder verstärkt auf den Osten. "Die Projektoren" ist diesmal aber kein Roman über Ostdeutschland, die DDR oder die Wendejahre. Auch wenn Teile davon in Leipzig spielen und auch die 90er Jahre nach der Wende vorkommen. Clemens Meyer knüpft mit diesem Buch eher an seine früheren vielschichtigen Auseinandersetzungen zu Gewalt an. Er spannt einen weiten Bogen von der DDR nach Jugoslawien, von einer Leipziger Psychiatrie bis in ein Kino in Novi Sad. Man gerät mit dem Text in den Zweiten Weltkrieg, in Partisanenkämpfe und den Balkanfeldzug der Deutschen Wehrmacht und ist bei Dreharbeiten zu den westdeutschen Winnetou-Filmen mit Pierre Brice und Lex Barker im kroatischen Velebit-Gebirge dabei.

In den 90er Jahren spielen die Neonazi-Szenen in Ostdeutschland und Dortmund eine Rolle, ebenso wie der Krieg auf dem Balkan. Das Kino und die Abenteuergeschichten von Stummfilm-Western über Tarzan bis Winnetou ziehen sich dabei wie ein roter Faden durch das Text-Gebirge.

Winnetou, "Dr. May" und echte Kriege

Karl May, im Buch heißt er nur "Dr. May", taucht als Figur immer wieder auf, ebenso wie Tarzan- und Old-Shatterhand-Darsteller Lex Barker. Die imaginierten Landschaften und Westernbilder legen sich unter und über die echten Landschaften der Drehorte und die erschreckende Historie dieser Orte. Denn dort, wo für den Film die Platzpatronen fliegen, wird in den 90er Jahren in den Jugoslawienkriegen mit echter Munition geschossen. Dieser Zusammenhang, diese Aufladung der Landschaft, hat Clemens Meyer während einer Kroatien-Reise auch zu diesem Roman inspiriert, wie er in einem Interview vor dem Erscheinungstermin erzählte.

Die Kriege und die Gewaltlinien des 20. und 21. Jahrhunderts verknüpfen sich bei Clemens Meyer mit der grundsätzlichen Frage, was spezifisch Männer eigentlich daran anzieht. Letztendlich lässt der Autor historische Fakten, literarische und filmische Verweise, Geschichten, Legenden und Projektionen durch die 1.050 Seiten flimmern. Welche Bilder und Imaginationen beeinflussen uns und unsere Wahrnehmung der Welt?

... ein junger Mann, der damals schon den Wunsch gehabt hatte, irgendwann für die Sache zu kämpfen. Für ein großes starkes Deutschland. Und für viel mehr noch … Auch wenn seine Eltern das nicht wussten, damals.

Ein Cowboy als roter Faden

Es ist ein wirklich wilder Ritt, auf den man sich einlassen muss, ohne dass man sich dabei an einer klassischen Handlung oder an Figuren festhalten könnte, mit denen man sich identifizieren könnte. "Es war einmal ein Junge" heißt es oft märchenhaft oder es ist die Rede von "einem Mann" oder "einer Frau". Eine Figur namens Cowboy ist aber doch eine Art verbindendes Element zwischen den erzählerischen Versatzstücken quer durch die Zeiten.

Cowboy lebt in den 50er Jahren zurückgezogen im kroatischen Velebit-Gebirge - dort, wo später die Winnetou-Filme gedreht werden. Cowboy wird Komparse und trifft Lex Barker. Seine Geschichte muss man sich Stück für Stück zusammenpuzzeln: Beim Überfall der Deutschen 1941 auf Jugoslawien hat Cowboy offenbar seine Familie verloren, kämpfte als Partisane, wurde Kommunist, geriet mit dem Staat aneinander und ins Gefängnis, verliebte sich in den Bergen in die Frau eines anderen, um schließlich Groschen-Western zu schreiben. Seine Erinnerungen, Traumata, Erfahrungen und Lebensbilder schieben sich zu einem gigantischen Erzähl-Strom ineinander. Dieser trifft wieder 20, 30 Jahre später auf die Geschichte von Georg, der die Winnetou-Filme im Kino sieht. Mit 16 reist er mit seinen Eltern aus der DDR aus, schon dort fühlte er sich zur Neonazi-Szene hingezogen, "ein junger Mann, der damals schon den Wunsch gehabt hatte, irgendwann für die Sache zu kämpfen. Für ein großes starkes Deutschland. Und für viel mehr noch … Auch wenn seine Eltern das nicht wussten, damals."

In den 90ern dann, angekommen im Westen, rutscht Georg in die Dortmunder Neonazi-Szene und knüpft Kontakt zu Söldnern, die an der Seite kroatischer Faschisten auf dem Balkan kämpfen.

Hat sich Meyer zu viel vorgenommen?

Der Leipziger Schriftsteller hat sich viel vorgenommen in seinem neuen Roman. Beim Lesen gerät man abwechselnd in zwei verschiedene Zustände: große Erschöpfung. Man fühlt sich öfter mal erschlagen von diesem Monster von Roman, von dieser Fülle von Themen, Szenen, und Erzählformen. Mal wird man in einen Sog aus Erinnerungs- und Zeitströmen gezogen, mal ist man Zeuge eines Therapiegesprächs in einer Leipziger Psychiatrie, was sehr unterhaltsam ist. Dann ist man mit einer Art Register über die Winnetou-Dreharbeiten konfrontiert, findet sich in einer bewussten Groschenroman-Ästhetik wieder oder liest ein Kapitel mit der romanhaft-langen Überschrift: "Zweihundertneunundneunzig Sätze über Winnetous Reise nach Wounded Knee im März 1973, als die Gedenkstätte von Aktivisten des American Indian Movement besetzt gehalten wurde, um Amerika und die Welt an die Missstände in den Reservationen und die Zweihundertdreiundneunzig indigenen Opfer des Massakers von 1890 zu erinnern“.

Manchmal fragt man sich, was das alles soll. Und genau dann stellt sich das andere Gefühl ein: pures Leseglück. Weil diese Collage aus Abenteuerlegenden, Historie, Filmbildern, Brutalitäten, Kämpfen, europäischen Verstrickungen, Figuren, Erinnerungsströmen und Absurditäten immer wieder genau das große Ganze ergibt, auf das Clemens Meyer mit diesem Werk abzielt. Es ist im Grunde eine Montage und Studie zu den Ursprüngen und Linien von Gewalt und Kriegen und zur Macht der Bilder und Erzählungen. Das ist sprachlich und erzählkünstlerisch oft beeindruckend. Teilweise aber doch überambitioniert.

Keine Hängematten-Lektüre

Clemens Meyer hat zehn Jahre an dem Roman gearbeitet, die Recherchewut, in die er sich gestürzt hat, spiegelt sich auch in der angehängten Quellenliste wider - von Christa Wolf über Heiner Müller, Ivo Andrić, Ernst Jünger, Pier Paolo Pasolini und natürlich Karl May. "Die Projektoren" ist kein Buch, das man in der Hängematte liegend genüsslich weg liest. Man braucht Zeit und viel, viel, viel Geduld, sollte das Buch immer wieder auch weglegen und die Bereitschaft mitbringen, sich ein bisschen quälen zu wollen. Aber diesen Ziegelstein zu heben lohnt sich.

Jedenfalls stehen die Chancen gut, dass es Clemens Meyer mit diesem Roman von der Longlist des Deutschen Buchpreises unter die letzten sechs Nominierten schafft. Am 17. September wird die Shortlist bekanntgegeben.

Nadine Kreuzahler, radio3

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