Roman - Arno Geiger: "Reise nach Laredo"
"Der alte König in seinem Exil": So hieß das Buch, das der österreichische Schriftsteller Arno Geiger 2011 über seinen demenzkranken Vater schrieb. "Der alte König in seinem Exil" wäre auch ein guter Titel für seinen neuen Roman, der heute erscheint, denn da geht es tatsächlich um einen alten König in einer Art Exil - nämlich um Kaiser Karl V. in seinen letzten Lebenswochen im September 1558.
Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger ist Experte für Zuständen im Randbezirk des Bewusstseins. Schon 2011, in dem einfühlsamen Bericht von der Demenz seines Vaters, beschrieb er Zustände, in denen das Denken unscharf wird und ins Traumhafte hinübergleitet. "Der alte König in seinem Exil" hieß dieses eindrucksvolle Buch, und genauso könnte auch sein neuer Roman heißen, der stattdessen aber den Titel "Reise nach Laredo" bekommen hat. Denn hier geht es tatsächlich um einen alten König im Exil, der nichts mehr zu tun hat, als auf den Tod zu warten. Das historische Vorbild ist Kaiser Karl V., der sich nach seiner Abdankung im Jahr 1555 in das in Zentralspanien gelegene Kloster Yuste zurückzog, wo er 1558 starb.
Geiger macht seinen Karl hässlich und schwach, um ihm eine fulminantere Auferstehung zu erlauben
Geigers grandioser Roman beginnt wenige Wochen vor Karls Tod. In einer großartigen Szene schildert er, wie der sieche, an Gicht und schwäche leidende ehemalige Kaiser mittels eines Hebekrans in einen Badezuber gehievt wird. Er müffelt, kriegt kaum noch etwas mit, ist lahm und bietet einen äußerst unschönen Anblick.
Der unbestechliche, allwissende Erzähler beschreibt ihn so: "Alter und Krankheit haben sein Gesicht auf eine Art verwüstet, die Respekt einflößt." Sein "wie vom Hufschmied mit dem schweren Hammer" vorgetriebenes Kinn ordnet der Erzähler so ein: "Trotzdem ist das Kinn Teil des Ganzen, wie jemand selbstverständlich zur Familie gehört, obwohl alle anderen ihn nicht mögen."
Der ironische und doch nie lieblose Ton, mit dem Geiger seine Figur zum Leben oder vielmehr ins Sterben hinein erweckt, erinnert an Daniel Kehlmanns Weltbestseller "Die Vermessung der Welt", der mit Humboldt und dem Mathematiker Gauß ebenfalls historische Figuren auftreten ließ.
Geiger macht seinen Karl so hässlich und schwach wie nur möglich, um ihm eine umso fulminantere Auferstehung zu erlauben. Schon in der folgenden Nacht besteigt er – wenn auch unter Mühen – ein Maultier, um zusammen mit seinem illegitimen Sohn, dem elf Jahre alten Geronimo, die Flucht hinaus in die Welt anzutreten und endlich all das zu tun, was ihm als Regent unmöglich war. Von seinem Rücktritt hatte er sich Freiheit erhofft, dann aber ratlos zur Kenntnis nehmen müssen, dass er ohne sein Königtum nicht mehr wusste, wer er ist und was er noch mit sich anfangen könnte.
Don Quijote und Sancho Pansa stehen Pate in diesem Abenteuerroman
Man ahnt, dass die "Reise nach Laredo" und ans Meer, die der alte Mann und das Kind zusammen antreten, nicht ganz real sein kann. Don Quijote und Sancho Pansa stehen Pate, ein wenig auch William von Baskerville und sein junger Adlatus Adson von Melk aus "Der Name der Rose". Symbolhaft breiten in der Pampa drei Windmühlen ihre Arme aus, und der alte Karl in seinem Badezuber erhält auf seine Frage: "Wie ist die Lage in Flandern?", die lakonische Antwort: "Die Windmühlen drehen sich."
Geiger inszeniert die Flucht der beiden als Abenteuerroman, der auch im wilden Westen spielen könnte. Sie retten einen von aufgebrachten Männern fast zu Tode gepeitschten jungen Fuhrmann und dessen Schwester, die zur verachteten Volksgruppe der Cagots gehören. Zu viert reisen sie weiter und stranden in der "toten Stadt", wo Karl dem Kartenspiel verfällt, säuft und sich prügelt und sich wie einst Odysseus auf der Insel der Kalypso nicht mehr losreißen kann. Doch jetzt ist er endlich da, wo er sein wollte: ganz bei sich und in der Gegenwart.
Eine phantastische Reise in die Freiheit, ins Leben und in den Tod
"In jedem Menschen steckt ein zurückgetretener König", lautet einer der Schlüsselsätze des Romans. Egal wie elend die äußere Lage, bleibt immer ein Rest königlicher Erhabenheit übrig, wenn wir nur in der Lage sind, sie zu erkennen. Doch auch die Umkehrung des Satzes gilt: In jedem zurückgetretenen König steckt ein Mensch. Ihn aufleuchten zu lassen, ist Karls letzter Wunsch und zugleich das literarische Anliegen Arno Geigers.
Er ermöglicht seinem Helden die phantastische Reise in die Freiheit, ins Leben und in den Tod, indem er alles möglich werden lässt, was denkbar ist. Dazu braucht es nicht viel, denn Denken ist nicht mehr die Sache eines Sterbenden.
"Lass dich nicht quälen von den vielen Bildern und Stimmen in deinem Leben, denk daran, dass der Mensch das eigentliche Geheimnis im König ist und umgekehrt und dass man es dabei belassen kann. Sofort fühlte Karl sich freier (…). Da verschwanden die Gedanken, und kurz nach dem Verschwinden der Gedanken verschwand auch alles andere."
Literarisches Meisterwerk
"Reise nach Laredo" folgt zwar einer historischen Figur, ist aber kein historischer Roman. Vielmehr ist es eine große Parabel auf die Suche nach dem Sinn des Lebens, den es nicht gibt. Doch das Leben gibt es – wenn auch nur als letzte Phantasie eines Sterbenden. Auszuhalten ist das nur mit Ironie und Liebe; zu bewältigen nur durch die Schönheit des Augenblicks, die immer wieder hervorbricht.
Geiger findet für all das eine Sprache und große Gedanken, die umstandslos im Staub versinken. "Reise nach Laredo" ist ein literarisches Meisterwerk.
Jörg Magenau, radio3