Roman - Daniela Krien: "Mein drittes Leben"
Die in einem kleinen Dorf bei Schwerin geborene Daniela Krien arbeitete zunächst als Zahnarzthelferin. Später studierte sie in Leipzig Kultur-, Kommunikations- und Medienwissenschaften. Als Schriftstellerin debütierte sie - von Kritik und Publikum zunächst wenig beachtet - mit dem Roman "Später werden wir uns alles erzählen" (2011) und dem Erzählband "Muldental" (2014). Zur Bestseller-Autorin wurde sie mit "Die Liebe im Ernstfall" (2019). Mit "Der Brand" (2021) schrieb sie sich endgültig in die erste Reihe der deutschsprachigen Literatur. Heute erscheint ihr neuer Roman "Mein drittes Leben", der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis steht.
Die Erzählerin in "Mein drittes Leben" fühlt sich nach dem plötzlichen Tod ihrer geliebten Tochter, als sei auch sie gestorben. Sie ringt mit den Furien der Vergangenheit, leidet in der Gegenwart wie ein weidwundes Tier und weiß nicht, ob es für sie noch eine Zukunft geben kann. Sie teilt ihr bisheriges Dasein in drei Abschnitte: in ihr von privaten und politischen Verwerfungen der Wendezeit geprägtes Leben; dann ihr 17 Jahre währendes geglücktes Leben mit einer abenteuerlustigen Tochter, mit einem sensiblen Ehemann und mit vielen beruflichen Erfolgen; schließlich das aus den Fugen geratene Leben nach dem Tod der Tochter, der die Erzählerin in einen Zustand der Lähmung und der Selbstzerstörung versetzt, aus dem sie sich vielleicht kaum jemals wird befreien können.
Das Glück scheint perfekt
Die in ein schwarzes Loch der Trauer versinkende Erzählerin heißt Linda, ist jetzt Mitte 40, aufgewachsen ist sie in der DDR, nach der Wende hat ihre arbeitslose und allein erziehende Mutter sie - gegen ihren Willen - mit in den Westen genommen, weil sie einen reichen Unternehmer heiratet, den sie eigentlich nicht liebt, der sie aber wenigstens materiell versorgt. Für Linda ein Schock, den sie zeitlebens nicht überwinden wird und ihr das Gefühl gibt, auf ewig heimatlos zu sein und nirgendwo je wirklich Wurzeln schlagen zu können.
Als Erwachsene zieht es sie zurück nach Leipzig, sie treibt ziellos von einer Beziehung und einem Job zum anderen, doch als sie den Maler Richard, ihren späteren Ehemann, kennenlernt, sie selbst eine Karriere als Kuratorin einer bedeutenden Kunststiftung macht und schließlich ihre Tochter, Sonja, geboren wird, scheint ihr Glück perfekt.
Eine im schwarzen Loch der Trauer versinkende Mutter
Aber dann zerbricht Lindas Leben in einem einzigem Moment: Die geliebte Tochter wird auf dem Weg zu einem Arzttermin von einem Lastwagen überrollt und zermalmt. Alles, was für Linda eine Bedeutung hatte, löst sich mit einem Schlag auf. Alle Kraft und jeder Lebenssinn verlässt die Frau, die eben noch ein schillerndes Dasein führte. Sie ist untröstlich, taumelt durch die Tage, kann keine Kunstschönheiten und keine fröhlichen Menschen mehr ertragen. Sie verlässt ihren Mann, der als Maler nur mäßig erfolgreich ist und lustlos dem Brotberuf eines Lehrers nachgeht. Statt sich - wie bisher - in teurem Outfit hübsch herausgeputzt in der Leipziger Kunstszene zu sonnen, bricht Linda alle Brücken hinter sich ab, hockt jetzt allein auf einem alten Bauernhof, füttert die Hühner, mistet den Stall aus, kämpft gegen den Impuls, sich mit einer Überdosis Tabletten aus dem sinnlos geworden Dasein zu verabschieden.
Immer wieder lässt die letzten Momente Revue passieren, bevor Sonja die Wohnungstür hinter sich zuzog, auf ihr Rennrad stieg und in den Tod raste: "Daraus leitet sich seither alles ab", murmelt Linda: "Wie ein schwarzes Loch steht es im Zentrum meines Seins und schluckt jede Zukunft, bevor sie beginnen kann."
Linda berichtet in Gedankensplittern und Erinnerungssequenzen, ihre Sprache ist schleppend, voller Brüche und Pausen, denn sie verschläft manchmal ganze Tage, jede Bewegung ist ihr eine Last, schon das Aufstehen eine Qual.
Krankheit, Leid und Tod überall - das ist schwere Kost
Immer schon waren die Romanfiguren von Daniela Krien voller Melancholie. Krankheit und Tod lauerten im Hintergrund: das Leben ein fragiles Gebilde, das Glück ein Zufall, der Abgrund nur einen Schritt entfernt. Jetzt legt sie noch einmal kräftig zu und dreht an der Schraube seelischer Pein, körperlicher Beeinträchtigung und tödlicher Gewissheit. Mit scharfem literarischen Seziermesser zerschneidet sie sämtliche Fäden, mit denen die trauernde Linda, die sich immer tiefer in ihren Schmerz fallen lässt, noch am Leben hängt. Schwer wird es für sie sein, wieder ein lebensfähiges Gewebe herzustellen.
Hoffnung gibt es nur, wenn Linda aufhört, sich mit Tabletten zu betäuben und alle Menschen, die es gut mit ihr meinen, zu verstoßen. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Noch suhlt sie sich in ihrem Leid. Dass ihr Körper es schafft, den Krebs, der in ihr wuchert, zu besiegen, ist ihr gar nicht recht. Sie würde so gern sterben. So wie die alte Bäuerin, deren Haus sie nun bewohnt. Oder wie ihr treuer Gefährte, ein altersschwacher Hund, der sich irgendwann zum Sterben in den Hühnerstall legt. Ob ihr Mann, dem sie sich langsam wieder annähert und der seine Verzweiflung in seine Bilder hinein malt, dem Tod von der Schippe springen kann, bleibt offen. Kaum hat er die Chance, in einer bekannten Galerie auszustellen, sucht auch ihn der Krebs heim.
Überall wird gelitten und gestorben: Eine todkranke Nachbarin hat nur noch wenige Monate zu leben. Und Lindas beste Freundin spielt mit dem Gedanken, zusammen mit ihrer schwerbehinderten Tochter aus dem Leben zu scheiden. Das Leben ist ein apokalyptischer Reigen, die Welt ein staubiger Todesacker. Schwere Kost.
Der Roman entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann
Trotzdem entwickelt der von Trauerritualen und Identitätssuche, von Ort- und Heimatlosigkeit in einer unübersichtlichen Welt handelnde Roman einen seltsamen, fast unheimlichen Sog, dem man sich nicht entziehen kann, der einen lesesüchtig macht. Dem Buch vorangestellt ist eine Zeile aus einem Song von DDR-Liedermacher Gerhard "Gundi" Gundermann: "Wir wissen, dass alles, was kommt, auch wieder geht, warum tut es dann immer wieder und immer mehr weh?"
Der Roman kreist vielstimmig um diese Frage, hütet sich aber davor, sie zu beantworten. Das muss jeder für sich selbst.
Frank Dietschreit, radio3