Roman - Iida Turpeinen: "Das Wesen des Lebens"
Wie lassen sich trockene wissenschaftliche Themen literarisch erzählen? Damit beschäftigt sich die finnische Autorin Iida Turpeinen, die über diese Frage sogar gerade ihre Doktorarbeit schreibt. In Finnland war nach einigen preisgekrönten Erzählungen ihr Debütroman ein riesiger Erfolg, der genau diesen Spagat versucht: die Naturwissenschaft mit spannender Literatur zu vereinen. "Das Wesen des Lebens" ist gerade auf Deutsch erschienen.
"Alle Forschungsreisen beginnen mit einer Tasse Tee." - So harmlos beginnt eins der ersten Kapitel von "Das Wesen des Lebens". Kapitän Vitus Bering und Naturforscher Georg Wilhelm Steller sitzen im Jahr 1741 in Russland bei einem Tee zusammen und besprechen die Planung ihrer Forschungsreise. Bering will den Seeweg zwischen Asien und Amerika finden, Steller die Tierwelt des hohen Nordens entdecken. Am Anfang steht die Tasse Tee, am Ende Tod, Verderben und die Ausrottung ganzer Tierarten.
Die Bestie und die Seekuh
Bering wird in die Geschichte eingehen, die Beringstraße trägt seinen Namen, das Beringmeer, die Beringinsel, auf der er entkräftet stirbt. Von Steller bleibt der Nachwelt ein Skelett: das Skelett der Stellerschen Seekuh.
Anhand dieses merkwürdigen unbekannten Lebewesens erzählt Iida Turpeinen auf unheimlich mitreißende Weise nicht nur die Entwicklung der Naturforschung, sondern auch von der Erschütterung ganzer Weltbilder:
"Und plötzlich lauert eine neue, furchteinflößende Bestie an den Stränden. Einst brauchte die Seekuh keine Angst vor Raubtieren zu haben, doch egal wo sich der Mensch ausbreitet, verschwinden alsbald die großen Arten: Höhlenbären, Wollnashörner, Riesenfaultiere, Beutellöwen und Moas. Die Seekuh hat keine Chance gegen uns: ein großes fleischiges Tier ohne Reißzähne oder Krallen, und so kratzen Archäologen die Knochenteile von Seekühen aus der Asche uralter Feuerstellen."
Ein neues schreckliches Wort: "Aussterben"
Steller wollte durch seine Forschung der von ihm so bewunderten Natur Gutes tun: Den Menschen zeigen, was für Wunder an den entlegensten Orten zu finden sind, ihre Skelette in Museen bringen, Zeichnungen der Tiere in Lexika verewigen. So wie die gigantische Seekuh, die Millionen von Jahren friedlich durch die Weltmeere schwamm, bis Steller sie entdeckte und die Menschen erkannten, wie gut so eine Seekuh schmeckt. Nur 30 Jahre später war sie ausgerottet:
"Die Sprache bekommt ein neues schreckliches Wort, Aussterben, extinction. Die endgültige Vernichtung einer Art. Was für ein seltsamer gottloser Gedanke, und erst versucht man, ihn mit allen Mitteln zu verdrängen."
Gottes Werk und des Menschen Beitrag
Bis dahin schien es unmöglich, dass Arten aussterben können. Was Gott geschaffen hatte, konnte doch nicht von der Erde verschwinden. Die Skelette von Mammuts und Dinosauriern, die nach und nach entdeckt wurden, mussten von Lebewesen stammen, die in entlegenen Regionen der Welt oder sogar unterirdisch weiterlebten. Doch dann kam die Erkenntnis:
"Das heißt, dass die Welt eine Katastrophe nach der anderen durchlebte. Die Folgen der Beobachtung sind enorm, schwer zu begreifen. Ein stetes, unumstößliches System wird von einer Welt abgelöst, in der eine Zerstörung auf die nächste folgt, in der eine Flut das Land überschwemmt, ein Asteroid den Himmel verdunkelt, ein ums andere Mal, eine Welt, in der von einst zahlreichen Wesen bloß Knochen und Staub übrigbleiben können."
Und zu akzeptieren, dass der Mensch tatsächlich selbst zum Artensterben beitragen kann, brauchte noch viele Jahrzehnte länger.
Leben für die Wissenschaft
Iida Turpeinen verwebt mit diesen großen Erkenntnissen die Schicksale von Frauen und Männern, die ihr Leben der Entdeckung neuer Arten gewidmet haben, ebenso wie dem Zeichnen, Ausstopfen und Bewahren von Museumsobjekten sowie letztendlich der Rettung der Natur. Turpeinen erzählt in der hervorragenden Übersetzung von Maximilian Murmann in einer schönen, altmodisch anmutenden Sprache von Schicksalen wie dem von Hilda Olsen. Sie findet ihr Lebensglück im Zeichnen von Spinnentieren und wird unverhofft zur Assistentin eines berühmten finnischen Forschers, weil sie einfach besser zeichnen kann als all die jungen Männer in seinem Uniseminaren:
"Der Pförtner zuckt zusammen, als er die junge Frau durch die Tür schreiten sieht, und fragt, was sie hier zu suchen habe. An der Universität Zürich wurde kürzlich ein empörender Beschluss gefasst und ein Teil der Hochschulfächer für Frauen geöffnet, doch an der kaiserlichen Alexanders-Universität sind keine Weibsbilder zu sehen, die einzige Frau hier ist eine Artemis aus Gips."
Hoffnung in Zeiten des Klimawandels
Wer "Das Wesen des Lebens" liest, wird nicht nur mit einem neuen und wacheren Blick in ein Naturkundemuseum gehen, sondern auch die lebendige Natur neu entdecken: Ihre Schönheit und Zerbrechlichkeit bleiben nicht nur bloße Floskeln - und die Erkenntnis, dass der Mensch nicht nur Bestie sein muss, sondern auch Retter sein kann, macht in Zeiten des rasanten Artensterbens und Klimawandels unerwartet Hoffnung.
Irène Bluche, radio3