Feridun Zaimoglu: Sohn ohne Vater © Kiepenheuer & Witsch
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Roman - Feridun Zaimoglu: "Sohn ohne Vater"

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Wenn ein Elternteil stirbt, ist das nicht nur schmerzhaft, sondern fundamental erschütternd. Ein Mensch, der immer da war, geht. Wie gelingt das Loslassen und wie lebt es sich als "Sohn ohne Vater"? Damit setzt sich Feridun Zaimoglu in seinem neuen Roman auseinander.

Der alles verändernde Telefonanruf kommt frühmorgens. Die Mutter ist dran:

Sie sagt: "Dein Vater ist tot. Er ist zum Gerechten geschritten." Sie sagt nicht: "Er ist zum Herrn gegangen." Ich staune über ihre Worte, ich schaue stumm auf den Bildschirm meines Mobiltelefons.

Die ersten Sätze des Romans werfen einen unmittelbar hinein in die Situation, mit der der Ich-Erzähler nun auf den nächsten 280 Seiten versucht fertig zu werden. Es wird nicht nur zu Beginn viel telefoniert, mit der Mutter, mit der Schwester:

Wir weinen, als wollten wir unsere Gesichter erbrechen. Wir haben keinen Vater mehr in diesem Leben. Wir wollen ihn wiederhaben. Schluss. Gottlos ist der Mensch, der den Toten beweint, auf dass er sofort wiederkomme. Woher kommen diese Worte?

Nur einen Absatz später dann kommt dem Ich-Erzähler beim rastlosen Spaziergang und einem Blick in den wolkenlosen blauen Himmel die Erkenntnis:

Ich werde als Nächstes sterben. Ich bin der nächste Tote. Tod.

Schmerz, Angst, Vergänglichkeit

Der Ich-Erzähler, der "Sohn ohne Vater", sieht sich plötzlich mit nicht nur mit dem großen Schmerz des Verlustes konfrontiert, sondern auch mit existenziellen Ängsten und der eigenen Vergänglichkeit.

Nun geht es darum, so schnell wie möglich in die Türkei zu kommen, wohin die Eltern, die in den 60er Jahren nach Deutschland emigriert waren, vor einiger Zeit zurückgingen. Aber der Sohn kann nicht Auto fahren, hat Flugangst und schlechte Erfahrungen mit Schiffen. Also leiht er sich Geld für einen und Freunde organisieren in Wohnmobil. Ein Roadtrip durch Deutschland, Österreich, Ungarn, Serbien, Bulgarien bis in die Türkei nimmt seinen Lauf.

Zaimoglus persönlichstes Buch

Feridun Zaimoglu hat seit seinem Erfolgs-Debüt "Kanak Sprak" 1995 unzählige Essays, Romane und Theaterstücke veröffentlicht. Immer wieder lotet er verschiedenste Stile und Themen aus und scheut nicht vor gewagten, ungewöhnlichen Erzählpositionen zurück. Er blickte auf die Weltgeschichte aus weiblicher Perspektive in "Die Geschichte der Frau", stellte Luther und seine Bibelübersetzung in den Mittelpunt von "Evangelio" und versuchte zuletzt in "Bewältigun" über Hitler zu schreiben.

"Sohn ohne Vater" ist Zaimoglus persönlichstes Buch. Der Autor hat tatsächlich seinen Vater verloren. Der Roman ist seine Auseinandersetzung mit der Trauer. Der Ich-Erzähler ist Feridun Zaimoglu auffallend ähnlich: Ein Schriftsteller aus Kiel mit Medizinstudium, der mit seiner Schwester eine Kindheit im Deutschland der 60er und 70er Jahre verbringt, als Kind türkischer Einwanderer. Wie viele der Erinnerungen, Anekdoten und der skurrilen Begegnungen auf dem Raodtrip aber aus dem echten Leben gegriffen sind, ist unwichtig.

Erinnerungsströme

Ein Sohn weint um seinen Vater und an diesem Ausnahmezustand der Psyche lässt uns Feridun Zaimoglu mit großer Wahrhaftigkeit teilhaben. Dazu gehören Erinnerungsströme, die den Erzähler unkontrolliert erfassen und zurück in die Vergangenheit tragen. In den Kinderhort, den Familienurlaub in Spanien, ins Medizinstudium, zu missionierenden Evangelikalen, oder einem Spaziergang mit dem Vater durch Hamburg.

Diese Erinnerungsströme wechseln sich ab mit den Stationen der Reise, die voller skurriler Situationen und Begegnungen steckt. Das Buch bewegt sich gleichzeitig vor und zurück. Während der Ich-Erzähler äußerlich und körperlich im Wohnmobil auf den Autobahnen über die Grenzen bis in die Türkei fahren lässt, sich also immer weiter vorwärts bewegt, reist sein Innerstes, zurück in die Vergangenheit.

Annäherung an die Türkei, Heimat der Eltern

Dabei entfaltet sich Feridun Zaimoglus große Lust am Erzählen und Fabulieren. Eine Seherin taucht auf, kahle Kinder, die den Ich-Erzähler in einen Hinterhalt locken, ihn fesseln und ausrauben. Immer wieder spielen Glaube und Aberglaube und das ambivalente Verhältnis des Trauernden dazu eine Rolle. Zaimoglu spielt außerdem mit vermeintlich orientalischen Erzählgewohnheiten und Klischees. Auf diese Weise nähert sich sein Erzähler der Fremde an, die die Türkei für ihn ist. Es ist die Heimat seiner Eltern, nicht aber seine eigene. Der Blick auf das Land ist ein kritisch-distanziert beobachtender, manchmal auch schamvoller, durchzogen von Fragen, die sich ihm selbst stellen nach der eigenen Identität und nach vermeintlichen Gewissheiten:

Das alles ist mir zu südlich. Das alles ist mir fremd. Es stimmt nicht. Die Hitze setzt den Türken zu – stimmt das? Ich bin geblendet von dem Licht, das die Umrisse zerstrahlt. Es wäre mir sehr recht, wenn man mich hier als unzugehörig und außenstehend betrachtete. Ich bin gerne der Degenerierte aus dem Westen. Dumme Gedanken.

Nicht selten stellt sich der Erzähler die Frage: Was denke ich da?

Ein zutiefst wahrhaftiger Roman

Man folgt beim Lesen einem Menschen, der sich durch die Trauer und die Reise in einem Zustand der Unsicherheit, Zerrissenheit und Unzurechnungsfähigkeit befindet. Inwieweit kann er sich selbst, seinen Wahrnehmungen und Erinnerungen trauen?

Feridun Zaimoglu ist ein zutiefst wahrhaftiger Roman über Trauer, Verlust und Loslassen gelungen.

Nadine Kreuzahler, radio3

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