Justiz-Thriller von Clint Eastwood - "Juror #2"
94 Jahre alt ist Clint Eastwood im letzten Jahr geworden - und damit deutlich jenseits des Rentenalters. Trotzdem hat er im letzten Jahr (einige Serien-Episoden nicht mitgezählt) seinen 41. Spielfilm unter eigener Regie fertiggestellt, das Gerichtsdrama "Juror #2" mit Nicholas Hoult und Toni Colette in den Hauptrollen. Wie schon in früheren Filmen beschäftigt sich Clint Eastwood erneut mit Fragen von Recht und Moral.
Auf den ersten Blick sieht das nach einer ganz einfachen Sache aus: Nach einem Prozess, der schnell vorbei ist, mit klaren Verhältnissen von Täter und Opfer, ein aufbrausender Mann, der seine Freundin im Streit erschlagen und ihre Leiche im Graben liegen gelassen hat.
Eine einfache Verhandlung wird kompliziert
Ganz so klar ist die Sache dann natürlich doch nicht für den titelgebenden Geschworenen Nr. 2. Justin Kemp (Nicholas Hoult) ist ein sympathischer Jedermann: Magazinjournalist, Ehemann, angehender Vater. Dass er als Geschworener in diesen Mordprozess berufen wird, passt ihm gar nicht, weil seine Frau nach einer Fehlgeburt jetzt am Ende einer Risikoschwangerschaft steht. Er will für sie und das Baby da sein und hofft, dass es zu einer schnellen Verurteilung kommt.
Danach sieht es zunächst auch aus: ein handgreiflicher Streit, den viele Menschen miterlebt haben, ein gewalttätiger, unsympathischer Drogenhändler, der seine Freundin in hohen Stöckelschuhen nachts im Regen allein nach Hause laufen lässt, jede Menge Zeugenaussagen und Indizien. Doch bei der Schilderung des Tathergangs kann man im Gesicht von Nicholas Hoult erst Überraschung und dann Entsetzen ablesen, als ihm klar wird, dass er in der Mordnacht auch in der Kneipe war, und dass der Wildunfall, den er später im strömenden Regen hatte, in Wirklichkeit ein Unfall mit Fahrerflucht gewesen sein könnte.
Einer gegen alle
Das bringt Justin in eine echte Zwickmühle - denn, seinem Impuls zu gestehen, kann er nicht nachgeben, weil er dann die ersten Lebensjahre seines Kindes im Gefängnis verbringen würde. Dazu kommt, dass ihm als trockener Alkoholiker niemand glauben würde, dass er den bestellten Whisky damals in der Kneipe wirklich nicht angerührt hat. Doch zu diesem Zeitpunkt ist bereits klar, dass Justin ein anständiger Mensch ist, der nicht schweigend zuschauen kann, wie ein Unschuldiger lebenslang ins Gefängnis kommt. Darum setzt er in der Jurysitzung alles daran, dieses scheinbar so klare Urteil in Frage zu stellen, womit der Film dann sehr stark an "Die zwölf Geschworenen" von Sidney Lumet erinnert: ein Kammerspiel im Jurysitzungsraum, mit einem aufrechten Mann, der sich sehr zum Missfallen der anderen 11 Geschworenen die Zeit nimmt, das scheinbar Offensichtliche genauer zu prüfen und zu hinterfragen.
Das Justizsystem auf der Anklagebank
Eigentlich wollte Clint Eastwood seine Karriere beenden, nachdem aber sein Western "Cry Macho" 2021 eher mittelmäßige Kritiken bekam, wollte er das so auch nicht als Schlusspunkt seiner Karriere stehen lassen. Bei der Suche nach einem passenden Projekt ist er auf das Drehbuch von Jonathan Abrams gestoßen, das in Hollywood 15 Jahre unverfilmt kursierte, in dem viele Themen und Motive stecken, mit denen er sich schon früher beschäftigt hat: in Filmen wie "Absolute Power", "Sully" oder zuletzt "Der Fall Richard Jewell", mit ihren Fragen nach Schuld, Verantwortung, Moral und Gewissen und dem Wissen, dass Objektivität eine Utopie ist, weil jeder Mensch, jeder Juror, aber auch der Staatsanwalt und die Richterin eigene Erfahrungen und die eigene Agenda ins Spiel bringen. Im Grunde ist es kein Einzeltäter, der in "Juror #2" auf der Anklagebank sitzt, sondern das ganze amerikanische Justizsystem.
Ein Puzzle aus widerstreitenden Interessen
Clint Eastwood ist berühmt für seine effiziente Arbeitsweise, ganz ohne stilistische Mätzchen, sehr fokussiert auf die menschlichen Gefühle und Widersprüche. Bis in die kleinsten Nebenrollen hat er ein tolles Ensemble zusammengestellt, um dieses Puzzle aus widerstreitenden Interessen wirklich spürbar zu machen. Im Zentrum stehen die beiden Hauptdarsteller, der Brite Nicholas Hoult und die Australierin Toni Collette, die schon vor gut 20 Jahren in "About A Boy" gemeinsam vor der Kamera standen - damals als Mutter und Sohn. In ihren Gesichtern lässt sich seismografisch ablesen, wie ihre Standpunkte und Interessen nach und nach aufgeweicht und verändert werden, wenn Justin in seinen Erinnerungs-Flashbacks an die verregnete Unfallnacht immer wieder nach Hinweisen für seine eigene Schuld oder Unschuld sucht oder wenn sich im Gesicht der Staatsanwältin die wachsenden Zweifel gegen ihrer Karriereinteressen durchsetzen. Um sie herum gibt es ein Netz aus großartigen Nebendarsteller:innen - u.a. J.K Simmons als Ex-Cop, Kiefer Sutherland als Mentor bei den Anonymen Alkoholikern, Chris Messina als Pflichtverteidiger und Amy Aquino als Richterin.
Die ganz große Wucht von Meisterwerken wie "Unforgiven" und "Million Dollar Baby" fehlt "Juror #2", dennoch ist es im besten Sinne altmodisches, solides Kino, das große Kraft aus den vielschichtigen Nuancen aus den Leistungen der Schauspieler:innen bezieht. Sie nehmen den Zuschauer mit auf die Achterbahnfahrt der Gefühle, Zweifel und Widersprüche, immer ganz nah dran, und immer aufgefordert, sich selbst eine Meinung zu bilden, die mit der nächsten Wendung wieder in Frage gestellt wird. Bis zur letzten Einstellung. Ein würdiger Abschluss einer großen Karriere - wenn Clint Eastwood nicht doch noch mal hinter der Kamera Platz nimmt.
Anke Sterneborg, radio3