Oscar-prämierter Animationsfilm - "Flow"
Eigentlich standen alle Wetten zugunsten des amerikanischen Animationsfilms "Der wilde Roboter": Allein schon die Oscar-Nominierung des lettischen Animationsfilms "Flow" war eine Sensation. Doch dann konnte der sich der unabhängig produzierte europäische Film um eine Katze und ihre tierischen Gefährten bei der Verleihung der Academy Awards am vergangenen Sonntag gegen die Animationsgiganten von Disney, Dreamworks und Pixar durchsetzen und damit auch den allerersten Oscar für Lettland holen. Seit seiner Premiere auf dem Festival in Cannes hat "Flow" schon jede Menge Preise gewonnen und Lettland auch in der Kategorie "Bester ausländischer Film" bei den Oscars vertreten.

Der mit 3,5 Millionen Dollar produzierte "David" gegen die 200 Millionen Dollar-"Goliaths" von Pixar und Dreamworks: überzeugen konnte "Flow" die Mitglieder der Academy mit seinem Independent-Spirit, mit liebevoll ertüftelter Animationskunst, mit einer sinnlich eingefangenen Natur, die nicht perfekt hyperrealistisch dargestellt ist, sondern künstlerisch stilisiert, in vielen Nuancen von Blau - und Grüntönen, in Blattwerk, in Wellen und Spiegelungen im Wasser, in Federn, Fell und Schuppen der Tiere. Und mit einer Kamera, die sich sehr real, sehr dynamisch, sehr räumlich durch diese Landschaften bewegt - zusammen mit der zentralen Heldin, einer kleinen schwarzen Katze, die diese Welt erkundet, in dem weichen Fluss, der dem Film seinen Titel gibt.
Dazu hat "Flow" aber auch einen originellen Ansatz, denn anders als sonst üblich in Animationsfilmen, sind die Tiere hier überhaupt nicht vermenschlicht: sie sprechen nicht, tragen keine Kleider, sie bewegen sich artgerecht in einer magisch dargestellten Natur, die zugleich bedrohliche Seiten hat, denn im Kern ist "Flow" eine Distopie, die nach einer Flutkatastrophe in einer komplett menschenleeren Welt spielt, in überfluteten Städten, die sich die Natur langsam zurückholt.
Eine Katze als zentrale Heldin
Am Anfang des Films hüpft die kleine schwarze Katze durch Wälder und über Wiesen, an einem Bach entlang, zu einem verlassenen Haus. Sie flieht vor einem Rudel Hunde und irgendwann vor einer mächtigen Flutwelle. In einer sich verändernden Welt muss sie improvisieren, immer neuen Gefahren trotzen - dabei entsteht mit einem majestätischen Sekretärvogel, einem molligen Wasserschwein, einem agilen Lemuren-Äffchen und einem gutmütigen Labrador eine kleine, zunehmend solidarische Patchworkfamilie, in der jedes Mitglied mit seinen unterschiedlichen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften etwas zum Überleben der Gruppe beiträgt.

"Flow" ist ein Road Movie durch verwunschene Landschaften und Städte, in denen die überfluteten Straßen zu Kanälen werden - und weil die mit Patina überzogenen und von Pflanzen überwucherten Gebäude keine modernen Wolkenkratzer sind, sondern malerisch verfallenen Palazzi, entsteht weniger der Eindruck einer erschreckenden Horror-Distopie, als der einer geradezu paradiesischen Welt - nicht zuletzt, weil sie vom Menschen befreit ist.
Artgerechtes Verhalten
Die Tiere sprechen nicht - das heißt, es wird wirklich nur mit Musik und Geräuschen erzählt, was großartig funktioniert, weil es filmisch und sinnlich wirkt: eine Erholung von der Geschwätzigkeit und Redundanz vieler aktueller Filme. Zu hören und zu sehen sind fast ausnahmslos artgerechtes Verhalten und reale Tiergeräusche, auch die Musik akzentuiert nur sanft, statt dominant zu treiben. Wenn die Katze über Wiesen und durch Wälder läuft, zwitschert und raschelt es überall. Sie bestaunt ihre Spiegelung im Teich. Sie flieht angstvoll, als eine Flutwelle anrollt und durch den Wald pflügt und rettet sie sich angstvoll ins Trockene mit einem Sprung auf ein treibendes Boot mit zerschlissenen Segeln. Dort stößt sie auf ein Wasserschwein. Die beiden Tiere beäugen sich misstrauisch - all das erschließt sich aus der Tonspur und aus tiertypischem Verhalten.

Die Katze als Alter Ego des Regisseurs
Regisseur Gints Zilbalodis ist gerade mal 30 Jahre alt und hat keine Filmschule besucht, stattdessen früh begonnen, eigene Kurzfilme zusammenzubasteln: zuerst als 2D-Zeichentrick, später mit Computeranimationen. Auch wenn vieles da noch improvisiert und provisorisch wirkte, waren die Kamerafahrten schon aufwendig und ausgefeilt, dynamisch und rasant. Es kam dem eher scheuen Regisseur entgegen, alleine rumzubasteln, selbst seinen ersten Spielfilm "Away" hat er noch weitgehend allein erschaffen hergestellt. Dazu passt es, dass sich in der Geschichte von "Flow" auch seine persönliche Entwicklung spiegelt: So wie die Katze, die naturgemäß Einzelgängerin ist, im Film lernen muss, im Team zu arbeiten, erging es ihm auch in seiner Entwicklung als Regisseur, der Ideen und Entwürfe entwickelt, um sie jetzt zum ersten Mal im Team auch mit belgischen und französischen Co-Produzenten gemeinsam umzusetzen.
Eine Art Schule war für ihn die Filmgeschichte: Vorbilder sind Hayao Miyazaki, der große japanische Animations-Meister, dessen aquarellierte Landschaften hier eine spürbare Inspiration sind, aber auch Realfilmregisseure wie Alfonso Cuarón mit seinen langen, dynamischen Kamerafahrten und bei dem es auch in den Hintergründen immer noch vieles zu entdecken gibt, oder die stark improvisierten Filme von Paul Thomas Anderson.

Ein wundersamer Film für kleine Kinder und große Erwachsene
Mit der Art, wie die Tiere mal spielerisch, mal ängstlich ihre sich verändernde Umgebung erkunden, können sich auch die kleinsten Kinder identifizieren. Verspielte kleine Momente, in denen die Katze mit dem gestreiften Schwanz des darüber höchst verärgerten Lemuren spielt, in denen sie versucht einen Lichtreflex zu fangen oder sich zusammen mit dem Hund über den Boden wälzt, sind fein beobachtet und bieten ruhige Momente des Innehaltens, bevor der Film wieder in den rasanteren Entdeckungs-, Flucht-, Jagd- und Abenteuermodus wechselt.
Zugleich gibt es eine philosophische Ebene, in der es um Leben und Tod, Solidarität und Mitgefühl geht - eine Ebene, die durchaus als Mahnung an die Erwachsenen gerichtet ist, denn halbwegs friedlich geht es in dieser postapokalyptischen Welt nur deshalb zu, weil in ihr keine Menschen mehr leben.
Anke Sterneborg, radio3