Letzter Band der "Helsinki-Trilogie" - Pirkko Saisio: "Das kleinste gemeinsame Vielfache"
In Finnland ist die Schriftstellerin, Regisseurin und Drehbuchautorin Pirkko Saisio berühmt, sie gilt als eine der besten Autorinnen des Landes. In Deutschland wird sie erst jetzt richtig entdeckt. Dazu trägt der Klett-Cotta Verlag bei, der ihre in den 90er und frühen 2000er Jahren erschienene Helsinki-Trilogie erstmals auf Deutsch veröffentlicht, allerdings in umgekehrter Reihenfolge. Nach "Das rote Buch der Abschiede" und "Gegenlicht" ist im September mit "Das kleinste gemeinsame Vielfache" nun der letzte - also eigentlich erste – Band erschienen.
"Ich war acht, als es zum ersten Mal passierte. Es war ein Morgen im November. Die Straße glänzte schwarz und wölbte sich vor den schneeregennassen Fenstern."
Die ersten Sätze der biografischen Helsinki-Trilogie von Pirkko Saisio klingen unheilvoll und düster, doch sie beschreiben kein traumatisches Kindheitserlebnis, sondern vielmehr Saisios Erweckung zur Schriftstellerin. Aus dem kindlichen "ich" wird ein distanziertes "sie":
"In meiner Vorstellung schrieb ich einen Satz: Sie wollte nicht aufstehen. Ich korrigierte den Satz: Sie wollte noch nicht aufstehen. Ich fügte einen zweiten hinzu: Sie war zu müde, um in die Schule zu gehen. Ich verbesserte den zweiten Satz: Sie war viel, viel zu müde, um in die Schule zu gehen. Triumphierend sah ich zu meinem Vater, der im bloßen Hemd die Arbeiterzeitung las und schwarzen Kaffee trank. Mutter stand vor dem Flurspiegel, tupfte sich Lippenstift vom Mund auf die Wangen und summte das Lied 'Ahoi Mannschaft'. Keiner hatte bemerkt, dass aus meinem Ich ein Sie geworden war, das ich einer ständigen Beobachtung unterwarf."
Vom "ich" zum "sie"
Der Wechsel vom "ich" zum "sie" mitten in einem Satz ist ein Markenzeichen Pirkko Saisios. In den drei Bänden ihrer Trilogie spielt sie konstant mit diesem Stilmittel, ohne dass es sich jemals abnutzen würde. Es hilft ihr dabei, ihre eigenen Bedürfnisse von den Erwartungen ihrer Umwelt zu trennen:
"Ich höre auf, Mutter gegenüber das Thema Jesus anzusprechen, denn sie fühlt sich in zwei Teile geteilt. Das Gefühl kennt sie schon: Sie hat bereits gelernt, sich zu teilen. Sie hat sich bereits in vieles geteilt: in die Anwesende und die Unsichtbare, in die Trösterin und die Getröstete, in Mädchen und Junge, in die Gehorsame und die Rebellische."
In jedem der drei Bände springt Saisio nicht nur zwischen "ich" und "sie", sondern auch zwischen zwei Perspektiven. In "Das kleinste gemeinsame Vielfache" erzählt sie aus der Sicht des kleinen Kindes, das seine Eltern verehrt und allen Erwachsenen gefallen will und aus der Perspektive der erwachsenen Autorin, die nach vielen Konflikten und Brüchen mit ihrer Familie das Sterben ihrer Eltern erleben muss.
Reflexion über das Schreiben
Saisio schreibt zwar vordergründig über ihre Kindheit, ihre kommunistische Arbeiterfamilie in den 50er und 60er Jahren in Helsinki, ihren holperigen Weg zum Erwachsenwerden - doch die Anekdoten und Erzählungen sind nur die unterhaltsame Kulisse für eine Reflexion über das Schreiben selbst.
Das erste selbst gelesene Buch hatte auf ihr Schreiben einen ebenso großen Einfluss wie ihre übergriffige Tante Martta: sie konnte nicht anders als die unerträglich langweiligen Seemannsgeschichten ihres Mannes aufzupeppen. So lernte die kleine Pirkko gleich, wie wichtig Adjektive, Spannungsbögen und Fantasie für gute Geschichten sind. Tanta Martta ...
"... legt einen einäugigen Hund auf die Schwelle der halb offen stehenden Tür, fügt noch einen Kommandanten hinzu, der sich über den Schnurrbart streicht und Stiefel trägt, die im nächtlichen Mondschein glänzen, und spätestens da hat Tante Martta die Geschichte vollständig an sich gerissen, schwelgt in Düften, Lichtern und Handlungsverwicklungen, zögert die Spannung kurz vor dem Ende noch einmal hinaus und treibt die Dinge schließlich in ihr grausiges Finale."
Die Helsinki-Trilogie ist nun vollständig und eine reine Freude
Pirkko Saisio hat sich einige Tricks bei ihrer Tante abgeschaut, doch zugleich bricht sie immer wieder mit Erwartungen, Handlungssträngen und Stilmitteln, offenbar aus purer Freude, einfach, weil sie es kann.
"Und alle Dinge, die es gibt auf dieser Welt, warten darauf, dass ich sie erfinde und in Bücher verwandele."
Die Helsinki-Trilogie ist mit diesem Band erstmals vollständig und meisterhaft von Elina Kritzokat ins Deutsche übersetzt worden und es ist eine reine Freude, diese drei Bände nun lesen zu können. Die Reihenfolge ist dabei gar nicht wichtig. Am Ende geht es nur um eins: das Schreiben.
Irène Bluche, radio3