Johan Harstad: Unter dem Pflaster liegt der Strand © Claassen
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Roman - Johan Harstad: "Unter dem Pflaster liegt der Strand"

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Ein monumentaler Roman, nach dessen Lektüre man das Gefühl hat, dass kein Stein, geschweige denn Pflasterstein, mehr auf dem anderen liegt. Johan Harstad macht aus dem Warten und den Erwartungen an das eigene Leben ein literarisches Ereignis.

"Unter dem Pflaster liegt der Strand" kreist, ganz grob, um zwei Themen: Kernenergie, also Atomkraft und radioaktiven Müll und die Zeit. Es geht um das Aufwachsen und um Zerfallsprozesse. Der Roman spielt größtenteils in Forus, einem Vorort von Stavanger, einer Stadt im Südwesten Norwegens, die als Zentrum der Erdöl- und Erdgasindustrie des Landes gilt. Hier wächst in den 90er Jahren der Ich-Erzähler Ingmar auf, mit seinen Freunden Jonatan, Peter und Ebba. Die sind in ihrer Jugend unzertrennlich, aber jetzt, 20 Jahre später, lebt jeder sein Leben.

Ingmar ist Atommüllendlagerexperte geworden, nimmt in Warschau an einer Konferenz teil und wird dort von einem Kollegen angesprochen, der seltsam viel über seine Jugend in Forus weiß. Als am nächsten Morgen sein alter Kumpel Jonatan anruft – seit 20 Jahren haben die sich nicht gehört – kommt er ins Grübeln über seine Clique, über das, was sie damals zusammengehalten und auseinandergetrieben hat.

Eine Wucht, der man sich nicht entziehen kann

1.200 Seiten nehmen seinen Lauf und man braucht viel Aufmerksamkeit, um dem komplexen Inhalt zu folgen. Wer sich aber darauf einlässt, wird reich belohnt. Allein wie Harstad beschreibt, wie sich die Jugendlichen in Stavanger treffen, sich langweilen und warten, warten, warten - Harstad macht daraus ein literarisches Ereignis. Er ist ein Autor, der beweist, dass Literatur komplex und unterhaltsam zugleich sein kann.

"Ich wollte einen Roman schreiben für eine Zeit, in der die Menschen die Geduld und die Konzentration aufbringen, eine so große Geschichte zu lesen. Aber gleichzeitig habe ich gehofft, dass, wenn man sich darauf einlässt, wenn man sich beim Lesen konzentriert – und man muss das Buch nicht wirklich 'studieren' –, sondern wenn man das tut, was wir als Lesen verstehen, nämlich sich mit einem Buch hinzusetzen und ihm seine Zeit zu widmen, dass einen das Buch einkapselt und einen eigenen Raum schafft, in dem man 'leben' und den Roman genießen kann."

Man kann sich der Wucht des Romans nicht entziehen. Johan Harstad lässt verschiedene Erzählstränge samt Zeitsprünge klug ineinander- und auseinanderfließen. Der Plot mäandert. Teilweise kommt einem so vor, als würde er erzählend die Zeit anhalten wollen. Aber am Ende ist jedes Wort, jeder Satz wie ein Sandkorn, die alle zusammen den Strand ausmachen. "Sous les pavés, la plage!" – "Unter dem Pflaster liegt der Strand" - das war die Parole der Pariser Unruhen 1968. Das skandierte die linke "Situationistische Internationale“, als sie ihre Barrikaden errichtete und unter den Pflastersteinen der Sand der Straßen erschien.

Durch eine realistische Geschichte hinein in ein fantastisches Element

Die Pflastersteine sind ein Symbol für die Bedeutung des Widerstands und den Glauben daran, dass etwas anderes als die bestehende Ordnung möglich ist. Und Harstad greift diesen Glauben für seine Geschichte auf. Das zeigt sich in der Unbändigkeit des Textes, aber auch konkret an einem mysteriösen Gegenstand: ein schwarzer, radioaktiver Stein, in der Form eines Pflastersteins. Wer diesen Stein berührt, sieht sein gesamtes Leben in sieben Minuten an sich vorbeiziehen und wird in den Wahnsinn getrieben. Und so kommt in diese zunächst durch und durch realistische Geschichte bald ein fantastisches Element hinein. Die Geschichte expandiert förmlich. Harstad ging es um die Tatsache, dass da etwas existiert, was man rational nicht begreifen kann und das einen daran erinnern soll, von wie vielen Dingen wir eigentlich keine Ahnung haben.

"Ich denke, der Roman ist in vielerlei Hinsicht ein Protest, denn weder ich noch Sie können die Zeit und die Entwicklung der Welt verändern, aber ich hatte das Gefühl, dass dies meine letzte Chance ist, ein solches Buch zu schreiben. Denn in zehn Jahren wird vielleicht kein Verlag mehr ein tausend Seiten starkes Buch veröffentlichen, das eine Geschichte auf verschiedene Arten erzählt. Das ist, finde ich, was Literatur tun sollte."

Corinne Orlowski, radio3

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