Daniel Kehlmann: Über Leo Perutz © Kiepenheuer & Witsch
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Kehlmann über "den unbekanntesten Großmeister der deutschen Literatur" - "Daniel Kehlmann über Leo Perutz"

Bewertung:

Leo Perutz sei ein "Weltautor". Und Daniel Kehlmann auch. Das betont der Journalist und Publizist Volker Weidermann im Vorwort zu Kehlmanns "Leo Perutz". Demnach sind wir auf dem höchsten Grat der Literatur unterwegs. Kehlmann allerdings ist der Ansicht, dass der deutschsprachige Autor Perutz außerhalb kleiner Insider-Kreise zu wenig beachtet und verehrt wird. "Nachts unter der steinernen Brücke" (1953) sei "eines der geheimen Meisterwerke der deutschen Literatur".

Wer dieses Buch zu Ende gelesen habe, sei "normalerweise hilflos verblüfft darüber, dass einer so etwas schreibt und danach nicht zu den berühmtesten Romanciers seiner Sprache gehört."

Wer war Leo Perutz? So lautet die Frage, die Kehlmann nicht beantworten will (zumal Hans-Harald Müller 2007 eine umfassende Biographie vorgelegt hat). Perutz selbst, konstatiert Kehlmann, hätte nicht gewollt, "dass wir uns mit seinem Leben beschäftigen". Er wollte durch seine Bücher sprechen.

Wer war Leo Perutz?

Also öffnet Kehlmann diese Bücher, um den Perutz-Ignoranten die Augen zu öffnen. Und zwar insbesondere für die "Kunst der mehrdeutigen Dramaturgie", die Perutz Kehlmann zufolge besser als sämtliche Kollegen beherrscht hat. Da wäre etwa die Erzählung "Herr, erbarme dich meiner". Sie handelt von Woloschyn, einem ehemaligen Entschlüsselungsexperten der zaristischen Armee, der unter Lenin zum Tode verurteilt wird. Er erbittet von seinem Henker, dem Tscheka-Chef Felix Dscherschynski, noch einmal zu Frau und Kind nach Hause zu dürfen. Er werde zurückkehren – und er kehrt zurück. Und wird wie durch ein Wunder gerettet, weil er im letzten Augenblick doch noch eine Depesche der Weißen (der Anhänger des Zarismus) entschlüsseln kann.

Wichtige Unwichtigkeiten

Klingt das spannend, wenn auch nicht überkomplex? Aber ja! Doch für Kehlmann handelt die Geschichte in einem "sehr tief verborgenen Bedeutungsuntergrund" von Kausalität überhaupt und davon, dass auch Gott sein Versprechen gegenüber der Welt nicht bricht – was immer das heißen mag.

Verblüfft nimmt man noch etwas anderes zur Kenntnis: Kehlmann hält eigens festhält, dass es in der Geschichte viele scheinbar nebensächliche Details gibt – "aber ebendieses Unwichtige bettet die Handlung in eine Wirklichkeit ein, die so reich und vielgestaltig erscheint, dass man an alles glaubt, was geschieht."

Bitte schön, das ist absolut trivial, Grundkurs kreatives Schreiben – ohne stimmige Details keine gute Geschichte.

Kehlmann liebt das "metaphysische Puzzle"

Aber sei's drum. Kehlmann liebt halt das "metaphysische Puzzle", zu dem Literatur werden kann – und das aus seiner Sicht in allerhöchster Vollendung in Perutz' "Nachts unter der steinernen Brücke" vorliegt. Der Roman besteht aus vierzehn wiederum scheinbar selbständigen, im frühen 17. Jahrhundert angesiedelten Kurzgeschichten, deren Zusammenführung einen "Mehrwert" generiert, "der weit über ihre Summe hinausgeht."

Und so schildert Kehlmann auf 35 Seiten Kurzgeschichte um Kurzgeschichte, erklärt, wie sich allmählich ungeahnte Zusammenhänge entfalten und wie sich schließlich die fürchterliche, wiederum metaphysisch grundierte Prophezeiung vom Anfang erfüllt: "Er, der Ewige, wird euch vertilgen, wie Er vertilgt hat Moab".

Das Volk und der Siedlungsraum Moab verschwanden laut diversen Stellen im Alten Testament nach Gottes Ratschluss. In "Nachts unter der steinernen Brücke" verschwindet die Judenstadt im alten Prag und steigt als Rauch in den Himmel auf – für Kehlmann "eine erschütternde Wendung, wenn man bedenkt, dass Perutz im Angesicht des Holocaust schreibt."

Werbefeldzug für Perutz

Kehlmanns Roman "Ruhm" fiel 2009 durch ein ähnlich verschachteltes Verfahren auf, das er ausdrücklich von Perutz abgeleitet hat. Die Rezension in der Süddeutsche Zeitung trug damals die boshafte Überschrift: "Sodoku ist kein Roman". Es ist halt nicht nach jedermanns Geschmack, wenn das Beste an einem Buch die Komplexität der Erzähl-Architektur ist. Kehlmann indessen ist genau davon begeistert. Insofern lässt sich leicht prophezeien, dass sein Werbefeldzug für Perutz bei all jenen fruchten wird, die an der Literatur genial konstruierte Binnenbezüge schätzen.

Ob Perutz auch ähnlich überzeugend ist, so weit es etwa um Menschliches, Allzumenschliches und Unmenschliches geht, bleibt offen. Aber Kehlmanns Buch gibt bei aller einseitigen Vorliebe für die mathematisch-logisch grundierte Qualität von Literatur einen ordentlichen Anstoß, Perutz selbst aufzuschlagen. Immerhin!

Arno Orzessek, radio3

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