Dana von Suffrin: Nochmal von vorne © Kiepenheuer & Witsch
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Roman - Dana von Suffrin: "Nochmal von vorne"

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Die deutsch-jüdische Autorin Dana von Suffrin ist eigentlich studierte Politik-, Geschichts- und Literaturwissenschaftlerin und promovierte 2017 mit einer Arbeit über die Rolle von Wissenschaft und Ideologie im frühen Zionismus. Doch statt eine Uni-Karriere anzustreben, wurde sie lieber Schriftstellerin. Sie debütierte 2019 mit dem viel gelobten Roman "Otto". Unter dem Titel "Wir schon wieder" hat sie jüngst 16 jüdische Stimmen vereint, die Auskunft geben, was sie angesichts von Antisemitismus und Gaza-Krieg bewegt. Ihr neuer Roman heißt "Nochmal von vorne" und steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

Hinter dem so einfach klingenden Titel verbergen sich Geschichten über Geschichten: wie bei einer russischen Holzpuppen, in der sich mehrere andere Figuren und Identitäten verstecken. Die Erzählerin, sie nennt sich Rosa, verheddert sich in einem Geflecht aus Gedanken, psychologischen Abgründen, politischen Verwerfungen, familiären Traumata. Nachdem Rosa sich mit unzähligen Fragmenten selbst verwirrt hat, beschließt sie, mit dem Erzählen "nochmal von vorne" zu beginnen, an den Anfang zurückzugehen.

Zurück an den Anfang

Doch wo ist der Anfang ihrer Geschichte? Beginnt sie mit Rosas Geburt in München, als Tochter einer deutschen Mutter und eines israelischen Vaters? Oder beginnt sie mit dem Holocaust und dem Schicksal der Überlebenden: Denn schließlich sagt auch ihre in Tel Aviv in einem Pflegeheim lebende Großmutter, sie möchte ihre Geschichte anhand der alten Familienfotos "nochmal von vorne" erzählen.

Und da ist auch noch der Vorgängerroman "Otto", in dem die Autorin davon erzählt hat, was es für zwei Töchter bedeutet, wenn ein starrköpfiger jüdischer Patriarch mit siebenbürgischen Wurzeln zum Pflegefall wird: ein brillanter, tragikomischer Roman über Familienbande und die Furien der Vergangenheit, die einen zeitlebens verfolgen.

Jetzt, im neuen Roman, erzählt sie diese alte Geschichte, die sehr viel mit der Biografie der Autorin zu tun hat, einfach "nochmal von vorne", nur eben ganz neu und anders.

Wunden der Vergangenheit

Rosas Vater, Mordechai Jeruscher, ist nach langem Leiden seiner Krebskrankheit erlegen, ihre Mutter ist seit Jahren verschollen, ihre Schwester unauffindbar. Sie fühlt sich als Waise und hockt allein in der Wohnung ihres Vaters, wartet auf einen Mann, der die Behausung entrümpeln und den überflüssigen Plunder mitnehmen soll, den sie nicht mehr sehen mag und der sie an ihre Kindheit in dieser hass-geliebten Familie erinnert, in der es ständig nur Streit und Gebrüll gab, das Wichtigste aber nie ausgesprochen wurde: welche Spuren der Holocaust in der Familie hinterlassen hat und wie die Wunden der Vergangenheit bis in die Gegenwart weiter wirken.

Während Rosa durch die Wohnung geistert, sortiert sie ihre verschwommen Erinnerungen und krausen Gedanken, denkt über ihren Vater nach, der (wie in "Otto") aus einer Familie von Juden aus Siebenbürgen stammt, die den Holocaust überlebte und danach vor dem kommunistischen Terror in Rumänien nach Israel geflohen ist. Nach dem Jom-Kippur-Krieg verlässt Mordechai Israel, will in München (ausgerechnet im Land der Täter) als Chemiker promovieren, landet aber in einem Labor-Job - und stolpert auf der Straße über die Füße von Veronika, einer Soziologie-Studentin aus einer katholisch-bayrischen Familie. Die beiden heiraten und bekommen, bevor ihre Ehe den Bach hinuntergeht und der Alltag nur noch aus Vorhaltungen und Vorwürfen besteht, zwei Töchter: die freche und selbständige Nadja, die sich ständig neue Identitäten erfindet und sobald wie möglich der Familienhölle entflieht. Und die schüchterne, introvertierte Rosa, die alles still beobachtet und in sich hineinfrisst.

Rosa erlebt, wie die Mutter ihren alten Hippie-Träumen nachhängt, mit einem Yoga-Lehrer durchbrennt und beim Tauchen in Thailand für immer in den Fluten des Meeres versinkt; wie ihr Vater sich in Selbsthass, Weltschmerz und Krankheit zurückzieht und sich das schuldbeladene Holocaust-Virus der Überlebenden in ihm tödlich ausbreitet.

Dana von Suffrin ist eine Meisterin der literarischen Täuschung

Erzählt wird die doch eigentlich ziemlich traurige Geschichte im leichten Ton einer überdrehten Farce und verrückten Komödie: Dana von Suffrin ist eine Meisterin der literarischen Täuschung, eine listige und lustige, historisch beschlagene und literarisch ausgefeilte Erzählerin. Ihre ironische, oft skurrile und groteske Erzählweise ist getränkt mit bitterbösem jüdischen Witz und schwarzem Humor, wie man ihn vom frühen Woody Allen kennt. Die Erzählerin springt zwischen den Zeiten hin und her, entwirft ein Puzzle aus fragmentarischen Erinnerungen, imaginierten Träumen, biografischen Bausteinen, die sie nur locker zusammenfügt. Vom gewalttätigen Exodus der Juden ist es nur ein literarischer Katzensprung ins Altersheim von Tel Aviv und nur ein Gedankenflug in eine Münchner Hochhaussiedlung, in der die schönsten Träume einer deutsch-jüdischen Kleinfamilie zerplatzen. Aber in der Asche der gescheiterten Hoffnungen findet Rosa immer wieder neues Leben und kann sich, weil sie das Lachen nicht verlernt hat, mit ihren toten Eltern und - vielleicht - auch mit ihrer lange schmerzlich vermissten Schwester versöhnen.

Eine Familiengeschichte, in der das ganze Drama des 20. Jahrhunderts versteckt ist

Der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stehende Roman ragt aus der Fülle der oft bleischweren und gedankenüberladenen Romane heraus, schafft es, das Schwere leicht, das Komplizierte einfach und das Lesen zum Abenteuer zu machen. Dana von Suffrin zeichnet schräge und schrille, traurige und aufmüpfige Figuren, die man sofort ins Herz schließt, entwirft eine Familiengeschichte, in der das ganze Drama des 20. Jahrhunderts versteckt ist. Wie es ihr gelingt, historische Ereignisse als Anekdoten in die Handlung einzuschmuggeln, ist große Kunst: Sie beschreibt, wie der rumänische Außenminister unbemerkt einen Herzinfarkt erleidet, während deutsche Nazis und italienische Faschisten ihn zwingen, Gebiete seines Landes an Ungarn abzutreten, und Hitler greift forsch zum Stift, um das Diktat auf der Landkarte einzuzeichnen. Süffisant kommentiert Rosa alias Dana von Suffrin:

"Später beklagte die beauftragte Kommission, dass Hitler es versäumt hatte, seinen Bleistift anzuspitzen. Er war stumpf, und eine viel zu dicke Linie wurde nun zur Grenze, im Maßstab der Karte war sie sechs Kilometer breit geraten."

Über die Banalität des Bösen darf, soll und muss man lachen, sonst könnte man sie nicht ertragen und nicht besiegen.

Frank Dietschreit, radio3

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