Ulrike Edschmid: Die letzte Patientin © Suhrkamp
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Roman - Ulrike Edschmid: "Die letzte Patientin"

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Anfang der 1970er Jahre zieht eine junge Frau aus Luxemburg in die WG in Frankfurt, sie wird zur Freundin. Die Ich-Erzählerin und "sie", wie die namenlose Freundin genannt wird, bleiben in Kontakt, auch später, als "sie" auf Weltreise geht und danach in Barcelona als Traumatherapeutin arbeitet. Über 40 Jahre schreiben sie sich Briefe und besuchen sich, bis zum Tod der Freundin.

Ulrike Edschmid hat mit "Die letzte Patientin" der Freundin ein literarisches Denkmal gesetzt. Ein schmales, intensives Buch, nur 111 Seiten lang. Eine Biografie in Ausschnitten, eine Annäherung an ein Leben, vielleicht der Versuch, etwas festzuhalten. Sie hat der Freundin eine Geschichte geschrieben, eine dichte, klare Prosa ohne wörtliche Rede, eindringlich, bewegend und unsentimental.

Edschmid erzählt entlang der historischen Zeitläufte und Bruchkanten der Geschichte

Man hat bei Edschmid immer den Eindruck, viel Stoff gelesen zu haben, dabei sind ihre Bücher unter 200 Seiten. Das liegt an den eingebauten Leerstellen zwischen den Episoden. Da tun sich Spalten auf, Brüche, zwischen den Zeilen steckt viel Lebenszeit.

An der ein oder anderen Stelle blitzen Themen auf, die man von Edschmid kennt, gleich im zweiten Kapitel: "Als eines Nachts unsere Wohnung gestürmt wird, steht sie im geblümten Kindernachthemd aus Flanell vor bewaffneten Polizisten", steht da, "mit ausgebreiteten Armen vor der Tür des Kinderzimmers, in dem mein Sohn schlief".

Edschmid hat schon in anderen Büchern von der Studentenbewegung erzählt, von Politisierungen, Radikalisierungen, z.B. in "Frau mit Waffe. Zwei Geschichten aus terroristischen Zeiten" (1996), in dem sie das Leben von Astrid Proll und Katharina de Vries nachzeichnet. Oder in "Das Verschwinden des Philip S." (2013) – eine Annäherung an ihren zeitweiligen Lebensgefährten Philip Sauber, der sich der "Bewegung 2. Juni" anschloss und 1975 bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben kam.

Ulrike Eschmid erzählt entlang der historischen Zeitläufte, entlang der Bruchkanten der Geschichte. Der politische Hintergrund schwingt immer mit, als Resonanzraum, auf dem sie ihre Geschichten aufbaut. So geht es bei ihrem Buch "Ein Mann, der fällt" zwar vordergründig um die Querschnittslähmung ihres Partners nach einem Sturz von der Leiter und um die Verlangsamung des Alltags - gleichzeitig ist das Buch auch ein Porträt von Westberlin, wie es sich seit den 80ern verändert, beobachtet von einer Wohnung in einem Charlottenburger Eckhaus.

Der Werdegang der Freundin, einer mutigen Frau auf langer Reise

Auch "Die letzte Patientin" hat etwas Exemplarisches. Der Werdegang der Freundin hätte eine Generation vorher so vermutlich nicht stattfinden können: keine Ehe, keine feste Partnerschaft, keine Kinder, lange keinen Beruf, alleine auf Weltreise. Eine Frau, die mit ihrer Geschichte für eine ganze Generation von Frauen steht, die sich anders in der Welt bewegen konnten.

Die Ich-Erzählerin bleibt im Hintergrund, sie ist die Berichtende. Nimmt die Briefe der Freundin zur Hand und erzählt von deren langer Reise durch Südamerika und die USA.

Da ist innere Aufruhr, Schwermut und Unruhe. Etwas tobt in der Freundin, eine Bürde aus der Vergangenheit, die Erwartungen der Eltern. Als Getriebene reist sie durch Guatemala, Honduras, Nicaragua, Brasilien, Costa Rica, Panama, Kolumbien. Eine mutige Frau, die alleine trampt, vergewaltigt wird, weiterreist. Sie sucht Rast bei Männern, doch die Beziehungen scheitern, immer wieder.

Im zweiten Teil des Buches wird die Freundin sesshaft, wird Therapeutin. Eine junge Frau wird ihre Patientin, schwer traumatisiert. Aber sie spricht nicht. Jahre sitzt sie jede Woche bei der Therapeutin und schweigt. Die Therapeutin möchte sie loswerden, zu belastend ist das bleierne Schweigen, sie ist selbst müde, kämpft gegen den Krebs. Doch irgendwann sind die Biografien dieser beiden Frauen so sehr ineinandergedreht, dass sie sich nicht mehr trennen lassen. Die Frage, wer Therapeutin und wer Patientin ist, stellt sich nicht mehr. Was als professionelle Verbindung begann, wird privat, wird Familie.

Ein schmales, gewichtiges Buch, das lange nachhallt

Ulrike Edschmid stellt wichtige Fragen: Was bleibt von einer Biografie, wer hält die eindrücklichsten Geschichten fest, wenn man es selbst nicht tut? Was ist ein gelungenes Leben, was ist Familie? Wie nah kann man anderen kommen? Und wie findet man eine Sprache für ein Trauma? Ein schmales, gewichtiges Buch, das lange nachhallt.

Anne-Dore Krohn, radio3

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