Roman - Mircea Cărtărescu: "Theodoros"
Bevor Mircea Cărtărescu mit seinen international gefeierten Romanen die Literaturwelt eroberte, hatte sich der 1956 in Bukarest geborene Autor in Rumänien bereits als Lyriker einen Namen gemacht. Inzwischen gilt er längst als wichtigste Stimme des rumänischen Postmodernismus und wird als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Unzählige Auszeichnungen hat er erhalten: den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, den Thomas-Mann-Preis, vom Berliner Haus der Kulturen der Welt den Internationalen Literaturpreis. Sein neuer Roman, ist 672 Seiten stark und trägt den Titel "Theodoros".
Theodoros ist eine Erfindung, Traum einer Person, in der sich Mythen und Legenden spiegeln, Vision eines Mannes, der in mehreren Welten sein Unwesen treibt. Geboren wird die zwischen Fiktion und Realität irrlichternde Figur in der rumänischen Walachei im Jahre 1818. Seine Eltern gehören zur Dienerschaft eines Großgrundbesitzers adliger Herkunft. Der Vater nennt seinen Sohn Tudor. Seine Mutter, die es aus dem sonnigen Griechenland in die rumänische Ödnis verschlagen hat, unternimmt mit ihrem Sohn Fantasiereisen in die Welt von Homer und der Ilias und nennt ihren Sohn Theodoros.
Unter diesem Namen wird er hinausziehen in die weite Welt und zum Anführer einer Piratenbande in der Ägäis. Auf der Flucht vor seinen Verfolgern lernt er in einem Kloster den aus einem äthiopischen Adelsgeschlecht stammenden Kassa Hailu kennen, der lieber Mönch sein möchte als sich den Weg zum Kaiser von Äthiopien gegen seine Widersacher freizukämpfen: Die beiden werden Freunde und tauschen ihre Identität.
Von der Dienerschaft zum Kaiser von Äthiopien - ein wahnwitziger Erzähltrip
Von Kassa Hailu unterwiesen in Sitten, Gebräuchen, Sprache, Religion schafft es Theodoros, sich zum Kaiser von Äthiopien aufzuschwingen und als Tewodoros II. den Thron zu besteigen, der auf dem Heiligen Buch Äthiopiens, Kebra Nagast, gründet und zurückreicht bis in die Tage von König Salomon, nach Judäa, dem magisch-mythischen Ort, an den wir auf einem wahnwitzigen Erzähltrip durch Zeiten und Räume gelangen, damit wir verstehen, warum der aus der Walachei stammende und sich zum gottbeseelten Kaiser hoch gemogelte Theodoros besessen ist von Sehnsucht, die alttestamentarische Bundeslade zu finden, in der die Steintafeln der Zehn Gebote aufgehoben sind: eine ziemlich verrückte Gemengelage.
Fantasie oder Wirklichkeit?
In einer Nachbemerkung zum Roman erwähnt Cărtărescu den Brief eines rumänischen Historikers an die englische Königin Victoria, er berichtet von einem Theodoros, der eines Tages aus der Walachei verschwindet und nach Jahrzehnten nebulöser Abenteuer Kaiser Tewedoros II. von Äthiopien geworden sein könnte. Cărtărescu meint, der Brief habe zwar keine reale historische Grundlage, eröffne ihm aber die Perspektive einer archetypischen Fiktion: Vier Jahrzehnte trug er die Idee eines pseudohistorischen Romans mit sich herum, in der "das Unmögliche auf einer anderen Zeitschleife möglich wird, in einer anderen Welt, mit anderen Himmeln und anderen Göttern". Doch erst jetzt, "in einer Zeit der Depressionen, Konfusionen, Pandemien und Kriege, als ginge es mit der Welt zu Ende, habe ich schließlich die zwei Jahre gefunden, in denen ich, um überleben zu können, 'Theodoros' geschrieben habe - ebenso wie mein Held letztlich seinen Traum verwirklicht hat, Kaiser zu werden.“
Ob es diesen in britischen Archiven schlummernden Brief wirklich gibt, sei dahin gestellt, vielleicht gehört das schon ins Reich der Fantasie, die Cărtărescu beflügelt hat, diesen Roman zu schreiben, der Grenzen überschreitet, Möglichkeiten auslotet und Welten miteinander verwirbelt.
Ausufernder Detailreichtum, enzyklopädische Gelehrsamkeit, erzählerische Raffinesse
Der ausufernde Detailreichtum, die enzyklopädische Gelehrsamkeit, die erzählerische Raffinesse des Autors: das fasziniert und treibt einen zugleich in den Wahnsinn, da wird einem ganz schwindlig. Ob Geografie und Geschichte, Flora und Fauna, Bräuche und Bewohner, Kultur, Kunst und Krieg, alles wird bis ins letzte Detail so exakt beschrieben, dass es auf unheimliche Weise hyperrealistisch und doch auch völlig frei erfunden erscheint.
Ob wir am Hofe von König Salomon vorbeischauen oder mit Tudor über die holprigen Wege der Walachei in die Freiheit stolpern, den trojanischen Krieg nachspielen oder als Seeräuber durch die Ägäis irren, bevor Theodoros seiner Berufung folgt und sich zum Kaiser von Äthiopien aufschwingt: das alles ist von einer so fulminanten fiktiven Wahrheit und Wahrhaftigkeit, dass alle Sinne Pirouetten schlagen.
Und Kassa Hailu, der als Tewedoros II. 1855 Kaiser von Äthiopien wird, sich als Reformer ausgibt, Straßen, Gleise, Häfen baut, das Land in die Moderne führen und den Einfluss des Islam zurückdrängen will: den hat es tatsächlich gegeben. Auch dass er nach dem Tode seiner ersten Frau zur Schwermut neigte, zum Tyrannen mutierte und die Engländer erzürnte, die ein Heer aufmarschieren ließen, um die Herrschaft dieses wahnsinnigen Massenmörders zu beenden, alles historisch verbürgt, wird aber bei Cărtărescu zu einer Fiktion, die an allen Wahrheiten und Gewissheiten rüttelt.
Der vielleicht verstörendste und großartigste Roman-Brocken der Saison
Erzählt wird alles von einem allwissenden "Wir", das einem "Du" sein Leben vor- und nachbuchstabiert und am Tag des Jüngsten Gerichts Theodoros die Geschichte seiner Irrungen und Wirrungen, Verkleidungen und Verwandlungen ins Gedächtnis ruft.
Es dauert lange, bis man diese rätselhafte Erzählkonstruktion kapiert und versteht, dass es die Sieben Erzengel sind, die vom Himmel herab auf das Getriebe der Erde blicken, alles in das "Buch des Lebens" schreiben und es Theodoros präsentieren. So wie sie auch allen anderen Sterblichen, über die Buch geführt wird und die sich vor dem Jüngsten Gericht verantworten müssen, ihre Lebensbücher überreichen und Gott zur Lektüre überlassen, der nun grummelnd dasitzt und mal wütend, mal träumerisch in Theodoros Lebensbuch und und allen anderen Büchern blättert. Erst dann erkennen die Erzengel, dass Gott "nicht über den Menschen mit seinen Sünden und lichten Momenten befinden wird, sondern über das von uns mit großer Beharrlichkeit ein halbes Jahrhundert lang geschriebene Buch. Und wenn dieses in den Himmeln Aufnahme findet, wird es auch auf Erden angenommen werden".
Ich weiß nicht, wie der Himmel darüber befindet, aber von mir wird das Buch, das mit Hölle, Fegefeuer und Paradies an Dantes "Göttliche Komödie" erinnert, als vielleicht verstörendster und großartigster Roman-Brocken der Saison gern angenommen und heftig bewundert.
Frank Dietschreit, radio3