Marta Barone: Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand © Kiepenheuer & Witsch
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Roman - Marta Barone: "Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand"

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Eine junge Frau, Ende 20. Ihr Vater, zu dem sie schon lange keine richtigen Kontakt mehr hatte, er lebte seit vielen Jahren von ihrer Mutter getrennt, stirbt und sie will wissen: Wer war eigentlich mein Vater, über den ich so wenig weiß? Marta Barone begibt sich daher auf die Spuren ihres verstorbenen Vaters Leonardo Barone, der offenbar ein geheimes, zweites Leben geführt hat.

"Zwischen ihm und mir bestand eine unüberwindliche Distanz, die ich immer deutlicher wahrnahm, je weniger er einfach nur mein Vater war und je mehr er mein Protagonist L. B. wurde, der junge Mann aus der Vergangenheit, dessen Züge immer noch so unscharf waren wie ein grobkörniges Zeitungsfoto. Der junge Mann. Und dabei hatte ich noch bis vor Kurzem ganze Jahre damit zugebracht, so wenig wie möglich an ihn zu denken. Es stimmt eben doch: Irgendwann kehren die Toten zurück, und man muss sich mit ihnen an den Tisch setzen."

Ein anderer Vater

Ihr Vater im letzten Kriegsjahr geboren, gehörte der 68er Generation an. In seinem ersten Beruf war er Arzt. Vor allem war er in den politischen Kämpfen der 60er, 70er Jahre stark engagiert. Dann stößt Marta Barone auf seine Prozessakten. Er soll als Arzt zwei verletzte Terroristen der Gruppe Prima linea medizinisch versorgt haben. Wegen Unterstützung kommt er für ein knappes Jahr ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung gibt er seinen Arztberuf auf, studiert Psychologie, wird Sozialarbeiter und kümmert sich um Drogenabhängige. Die Akten zeigen Marta Barone einen ganz anderen Vater, als den, den sie kannte:

"Es ist schwer zu vermitteln, wie sprachlos mich diese Worte machten, wie unwirklich sie mir vorkamen, während ich dort auf dem Bett meiner Mutter saß. Der Kontrast war so extrem, dass ich, außer einer gewissen Befremdung, gar nichts Deutliches empfand. Diese Worte stammten aus einem anderen Universum und vor allem – vor allem! – konnten sie unmöglich mit dem Mann zu tun haben, den ich gekannt hatte."

Barone beleuchtet eine schmerzhafte Ära der italienischen Geschichte

Dies löst bei Marta Barone eine Erschütterung aus. Sie beginnt mit der Recherche und sucht dafür ehemalige Weggefährten, Freunde und auch seine erste Ehefrau auf. Sie erfährt, dass er über einige Jahre Funktionär in einer stark sektiererisch kommunistischen Partei war: Servire il Popolo - "Dem Volk dienen". Und dies war auch genau so gemeint: Auf allen Besitz verzichten, in die Fabriken arbeiten gehen, das haben viele damals aus Überzeugung gemacht, das Ganze dann aber noch gepaart mit einer rigiden Sexualmoral, katholischer als der Vatikan. Deswegen auch die Heirat mit seiner ersten Ehefrau, obwohl sie eher als Politaktivsten und weniger als Liebespaar verbunden waren.

Marta Barone beleuchtet dadurch eine schmerzhafte Ära der italienischen Geschichte: die bleiernen Jahre, i anni di piombo. Zwei Jahrzehnte beginnend mit den Protesten der 60er Jahre, die in einem Strudel von Gewalt und Gegengewalt endeten. Auf der einen Seite Bombenattentate von Faschisten, die man den Linken in die Schuhe schieben will. Staat und Geheimdienste involviert. Stichwort: Strategie der Spannung. Und auf der anderen Seite entstehen immer mehr bewaffnete linke Gruppen, die Brigate Rosse, Lotta Continua, Prima Linea und andere. In den 80er Jahren sitzen schließlich rund 4.000 Linksradikale im Gefängnis. Sehr oft benutzte die Justiz für ihre oftmals drakonischen Urteile Kronzeugen, die Pentiti, die Reuigen. Wie auch im Prozess gegen ihren Vater Leonardo.

Die Autorin bleibt in sicherer Distanz, findet keine Sprache

Doch die Erschütterung, die Marta Barone behauptet, ist sie wirklich glaubhaft? Dass ihr Vater Probleme mit der Justiz bekam, ist wenig überraschend. Denn er führte ein sehr stringentes Leben als linker Aktivist bis zuletzt. Somit ein sehr typischer 68er-Lebenslauf. Insofern hat Marta Barone zwar einen Stoff – die bleiernen Jahre – findet aber als Form nur die Recherche, die sie wenig überzeugend unterfüttert.

Vor allem findet sie keine Sprache dafür. Marta Barone bleibt immer in der sicheren Distanz, in der Perspektive heute, und insofern muss ihr dies alles auch fremd bleiben – wie die Ideale der Partei Servire il Popolo und warum ihr Vater so lange dort überzeugt mitmachte. Sie erzählt ihre Recherche einfach nach, referiert über Seiten die chronologischen Geschehnisse und unterlegt ihre eigenen Gefühle mit einem sehr elegischen Ton, der zum Gefühlskitsch neigt.

Für den wirklich tragischen Moment im Leben ihres Vaters, der nach seiner vorzeitigen Entlassung für einen Verräter gehalten wird, womit sein ganzes politisches Aktivistenleben endet, dafür findet sie gar keinen Umgang. Weil ihr eben bis zum Schluss sein Aktivistenleben fremd bleibt. Für den deutschen Leser kommt erschwerend hinzu, sie referiert zwar vieles, vieles wird aber auch nur als Stichwort reingeworfen. Einmal erwähnt die Piazza Fontana. Aber ohne jeder weitere Erklärung. Gemeint ist damit der furchtbare Bombenanschlag von 1969 in Mailand mit 17 Toten und vielen Schwerverletzten. Ein wichtiger historischer Wendepunkt. Aber dies muss man eben wissen.

Tomas Fitzel, radio3

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