Annie Ernaux: Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus © Suhrkamp
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Roman - Annie Ernaux: "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus"

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Alzheimer ist die häufigste Form der Demenz und bis heute kann sie nicht geheilt werden. Bei dieser Krankheit leiden nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihr Umfeld. Die französische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Annie Ernaux lässt uns an ihrer Erinnerung teilhaben - an der Erinnerung an ihre Mutter, die an Alzheimer litt und ihr Gedächtnis verlor.

"Meine Mutter verblasst. Altern heißt die Farbe verlieren, durchsichtig werden." Die Frau, über die Annie Ernaux in "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" schreibt, ist dieselbe, die Leserinnen und Leser aus Ernaux’ Buch "Eine Frau" als energische, selbstständige Person kennengelernt haben. Eine Frau, die aus armen Verhältnissen kommt und sich hochgearbeitet hat bis zu einem Lebensmittelladen mit Gaststätte. Jetzt aber verändert sich die Mutter. Zuerst sind es nur kleine Verschiebungen, die man noch zurechterklärt. Aber dann kommt die Diagnose: Alzheimer.

Als die Symptome schlimmer werden, nimmt Annie Ernaux ihre Mutter bei sich zuhause auf. Und sie schreibt darüber. Auf losen Blättern, mit all der "Fassungslosigkeit und Erschütterung, in der ich mich damals befand", so schreibt Ernaux im Vorwort. Ob das insgesamt ein "Roman" ist, wie der Suhrkamp Verlag auf den Einband des jetzt auf Deutsch erschienenen Bandes geschrieben hat, darüber ließe sich streiten. Natürlich ergibt sich allein durch die Chronologie eine Geschichte, aber dennoch ist es eher eine literarische Loseblatt-Sammlung von schnellen, impulsiv notierten Episoden. Man kann das Genre aber getrost beiseitelassen, für die Wirkung des Textes spielt es keine Rolle.

Neu übersetzt von Sonja Finck

Annie Ernaux hat fast alle Phasen ihres Lebens – die Eltern, die verstorbene Schwester, die Abtreibung, die soziale Herkunft – in Literatur verwandelt, aber als ihre Hauptthemen haben sich herauskristallisiert: Klasse und Körper, und die Abgründe zwischen Eltern und Kindern. In "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" rückt das Thema Klasse, anders als in "Die Frau", in den Hintergrund. Der Körper jedoch, der alte Körper ihrer Mutter, in dem ein verwirrter Geist wohnt, ist ein zentrales Thema. Das Weniger werden, die unkoordinierten Bewegungen, der Verlust von Kontrolle. Ein Körper, dem Annie Ernaux zwangsläufig immer näherkommt, weil sie die Mutter versorgt.

2022 bekam die französische Schriftstellerin den Literaturnobelpreis – für Bücher wie "Der Platz", "Eine Frau", "Die Scham", "Das Ereignis", oder "Die Jahre", für ihren schonungslosen und soziologischen Blick. Der Suhrkamp Verlag bringt nun nach und nach auch ihre früheren Bücher auf Deutsch heraus, neu übersetzt von Sonja Finck, die den Ton von Ernaux mit großer Empathie und Kenntnis erfasst und trifft, anders als vorherige Übersetzungen. Die scheinbar karge Sprache, die Präzision, das Direkte, Glasklare. Das, was Ernaux selbst "écriture plate" nennt, den Verzicht auf alles, was zu viel sein könnte und ins Ornamentale geht.

"Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" wurde in Frankreich schon 1997 bei Gallimard veröffentlicht. Ein Satz, den ihre Mutter eines Tages schreibt: "Je ne suis pas sortie de ma nuit". Es ist ihr letzter Satz auf Papier. Erstaunlich ist, dass Annie Ernaux, die sich eine Ethnologin ihrer selbst nennt, bei diesem Band nicht einen eigenen Satz zum Titel macht. Zwar schildert sie ihre Wahrnehmung der Situation, aber sie fokussiert sich bei ihren Notizen und Aufzeichnungen sehr auf die Mutter. Auf eine traurige Art kommen sich Mutter und Tochter in dieser letzten Phase ihres Lebens noch einmal näher als je zuvor.

Ein unverzichtbarer Baustein

Die Mutter wird immer gleichgültiger, verlegt Dinge, dann das Interesse. Die Scham, wenn Annie Ernaux sie entblößt sieht. Die plötzliche Schamlosigkeit der Mutter. Als es zuhause nicht mehr zu bewältigen ist, organisiert Ernaux ihrer Mutter einen Platz im Pflegeheim. Und kämpft mit Schuldgefühlen. Der Umgang mit dem Altern, mit Pflege und dem Tod, das sind Dauerthemen unserer Menschheit. Seit einigen Jahren sind sie auch zu literarischen Themen geworden. Ernaux war 1997 jedoch eine der ersten, die so schonungslos vom Verfall und vom Verblassen eines Menschen schreiben.

"Sie ist weiter geschrumpft, konfus. Sie trägt nichts als das hinten offene Hemd, das ihren Rücken, ihren Po und die Netzunterhose entblößt. Durch die doppelverglasten Fenster fällt strahlender Sonnenschein. Ich muss an mein Zimmer im Studentinnenwohnheim denken, vor zwanzig Jahren. Jetzt bin ich hier, mit ihr. Man kann sich nichts vorstellen."

Das nicht Vorstellbare, das erzählt Ernaux wie immer unsentimental und eindrücklich in großer Präzision. Im Kontext ihrer anderen Bücher ist "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" ein unverzichtbarer Baustein, der auf Deutsch bisher gefehlt hat.

Anne-Dore Krohn, radio3

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