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Berlinale | Wettbewerb - "Strichka chas"

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Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf den Alltag von Schüler:innen und Lehrkräften? Kateryna Hornostajs Dokumentarfilm "Strichka chas" ("Timestamp") zeigt ein Schulsystem im Ausnahmezustand – direkt an der Front und weit abseits des Kriegsgeschehens.

Grinsen, Gelächter und schelmische Blicke: Es herrscht gute Stimmung im Englischunterricht einer Grundschule in Bucha. In der Stadt, die vor zweieinhalb Jahren zum Synonym für die Grausamkeit des russischen Angriffskrieg geworden ist, füllen die Zweitklässler gerade einen englischen Fragebogen aus, als eine Durchsage den Unterricht unterbricht: "Nationale Schweigeminute", das bedeutet: Alle müssen aufstehen für die Gefallenen an der Front.

Schulalltag in einem kriegszerissenen Land

Kateryna Hornostajs Dokumentarfilm "Strichka chasu" zeigt den Schulalltag in einem kriegs-zerrissenen Land. Über ein Jahr lang, vom März 2023 bis zum Juni 2024, ist die Filmemacherin mit ihrem Team durchs Land gereist und hat dabei Schulen in unterschiedlichen Landesteilen besucht. Sie war in Gegenden wie Saporischja und Bachmut, wo die Front ganz nah ist, wo viele Schulgebäude zerstört sind und der Unterricht nur online stattfinden kann. Sie hat aber auch Regionen besucht, in denen der Krieg relativ weit weg scheint. In der Stadt Tscherkassy beispielsweise, 250 km von der Front entfernen, können Schülerinnen und Schüler im Sommer 2024 ganz entspannt ihren Abschlussball feiern.

Eine Schule im Luftschutzkeller

Circa 25 % der ukrainischen Schulen sind in den letzten 10 Jahren ganz oder teilweise zerstört worden. Trotzdem befindet sich das ukrainische Schulsystem nicht in Auflösung. Mit viel Disziplin und großem Erfindungsreichtum haben es die Ukrainer geschafft, ihre Bildungseinrichtungen am Laufen zu halten. Kateryna Hornostajs Film zeigt Unterricht in Luftschutzkellern und U-Bahnstationen, sie besucht eine wiederaufgebaute Schule, die mit Spenden der EU neu errichtet wurde und sie ist dabei, wie sich eine Lehrerin vor den Trümmern ihres ehemaligen Schulgebäudes per Livestream an ihre Klasse wendet.

Schießen als Unterrichtsfach

Die Bedrohung und der Schrecken des Krieges sind dabei immer präsent. So lernen die Schüler einer Berufsschule im Donbass neben Mathe, Englisch und Geografie auch, wie man eine Drohne steuert und mit einem Gewehr schießt. Andere werden gefragt, ob sie nach ihrem Abschluss zum Militär gehen wollen und für welches Bataillon sie sich gegebenenfalls melden würden. Und selbst Erstklässler müssen schon wissen, was man alles in einen Notfallkoffer packt, wenn es mal wieder Luftalarm gibt.

Virtuelle Herzchen im Zoom-Call

Gänzlich ohne Interviews, Erzählstimme oder Reenactments gewährt "Strichka chasu" Einblicke in die Auswirkungen des Krieges auf das Alltagsleben. Dabei sind Kameramann Oleksandr Roshchyn beeindruckende Bilder gelungen, die einen als Zuschauer betroffen machen, die mitunter aber auch Hoffnung vermitteln. Wenn sich etwa die Schüler einer Klasse aus Bachmut im Zoom-Call zu ihrer virtuellen Abschlussfeier versammeln, dann fliegen nicht nur die virtuellen Herzchen im Chat hin und her, sondern es wird auch feierlich geschworen, die Heimatstadt wieder aufzubauen, die die Russen bei ihrer Offensive im Sommer 2024 dem Erdboden gleich gemacht haben.

Beeindruckender Durchhaltewillen

"Strichka chasu" ist ein Film, der Zeugnis ablegt vom beeindruckenden Durchhaltewillen der Ukrainerinnen und Ukrainer – trotz aller Widrigkeiten, die das Land in den vergangenen Jahren erdulden musste. Wie sie sich denn fühlten, angesichts der prekären militärischen Lage und der ausbleibenden Hilfe der USA, werden die Mitglieder des Filmteams bei der Berlinale Pressekonferenz nach dem Film gefragt: "Wir müssen diesen Krieg gewinnen.", lautet die Antwort. "Es gibt gar keine andere Chance für uns."

Carsten Beyer, radio3

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