Berlinale | Wettbewerb - "La cache"
Eine jüdische Großfamilie im Pariser Mai '68. Während auf der Straße Pflastersteine und Polizeiknüppel fliegen, wird in der Wohnung fieberhaft über Politik diskutiert. Und dann steht eines Tages ein überraschender Gast vor der Tür ... Lionel Baiers Romanverfilmung überzeugt mit viel Zeitkolorit und einem quirligen Ensemble, aus dem Michel Blanc in seiner letzten Rolle herausragt.
Eine großbürgerliche Familie in Paris im Mai `68: Der Großvater (Michel Blanc) ist ein jüdischer Arzt, der kein Blut sehen kann, die Großmutter (Dominique Reymond) schreibt Romane über die Arbeiterklasse und die drei Söhne (William Lebghil, Aurélien Gabrielli und Adrien Barazzone) sind Künstler und Intellektuelle. Außerdem leben in der Wohnung noch die Urgroßmutter, genannt Hinterland (Liliane Rovère), die die meiste Zeit in Erinnerungen an ihre Jugend in Odessa schwelgt, und der 9-jährige Enkel (Ethan Chimienti), aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird.
Ein unerwarteter Gast
Turbulent geht es zu in Lionel Baiers "La cache", der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Christophe Boltanski aus dem Jahr 2015. Das hat auch etwas mit der Zeit zu tun, in der die Geschichte spielt. Straßenunruhen, Generalstreik, wütende Demonstranten, die den Rücktritt von Premier Georges Pompidou und seiner Regierung fordern – im Mai 1968 steht die Fünfte Republik vor dem Abgrund. Und dann taucht eines Tag Staatspräsident Charles de Gaulle vor der Tür der Altbauwohnung auf und sucht einen Unterschlupf ...
Das Trauma des Holocaust
Doch es ist nicht so sehr die große Politik, die Baier interessiert. Ihm geht es vielmehr um den Kosmos der Großfamilie und um die Rolle der französischen Juden nach 1945. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, doch das Trauma des Holocaust und das Entsetzen über die Kollaboration des Vichy-Regimes sind noch immer da. So ist das Versteck ("La cache"), in das der Großvater mit de Gaulle hinabsteigt, auch ein Symbol für das Unterbewusste, das in der Familienhistorie schlummert.
Zeitreise die 60er Jahre
Um die Romanvorlage auf Filmlänge zu bekommen, hat Baier den Plot des Buches stark vereinfacht. Das aber tut dem Kinovergnügen keinen Abbruch - im Gegenteil: So kann man sich besser auf die Details konzentrieren, die viel vom Charme dieses Films ausmachen. Von den Autos über die Frisuren bis hin zu den Plakaten, die überall an den Wänden hängen und der Musik, die im Radio läuft, hat Baiers Ausstatterin Véronique Sacrez ganze Arbeit geleistet. Auch in der Wahl der filmischen Mittel wirkt "La cache" zumindest streckenweise wie eine Hommage an die 60er Jahre. Francois Truffaut und Jean-Luc Godard kommen einem in manchen Szenen in den Sinn, dann aber wird die Zeitreise auch wieder ironisch gebrochen durch moderne Animationstricks.
Denkmal für einen großen Charakterdarsteller
"La cache" ist eine raffiniert inszenierte Komödie mit einem großartigen Ensemble, aus dem vor allem Michel Blanc als linkisch-charmanter Großvater herausragt. Ihm ist dieser Film auch gewidmet, denn Blanc, einer der großen Charakterdarsteller des französischen Kinos, ist kurz nach Ende der Dreharbeiten am 3. Oktober 2024 gestorben.
Carsten Beyer, radio3