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Album der Woche | 17.02. - 23.02.2025 - Oscar Bohórquez u. Frank Braley: "Unexpected America"

Ein deutscher Geiger und ein französischer Pianist tun sich zusammen und nehmen ein Album auf. Allerdings nicht, wie man meinen könnte, mit europäischer Musik, sondern mit amerikanischer. Das hat mit den beiden Musikern persönlich zu tun: Während der Geiger Oscar Bohórquez südamerikanische Wurzeln hat - seine Eltern stammen aus Peru und Uruguay - und sich für Musikrecherchen längere Zeit in Brasilien aufhielt, hat sich der Pianist Frank Braley in der Vergangenheit intensiv mit nordamerikanischer Musik beschäftigt, unter anderem für die Aufnahme eines Gershwin-Albums.

Alles begann mit der Violinsonate von Camargo Guarnieri, einem brasilianischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der mit vollem bürgerlichen Namen Mozart Camargo Guarnieri hieß.

Brasilianische Klänge und Rhythmen

Die insgesamt äußerst lebendige, stimmungsvolle Sonate aus dem Jahr 1956 mit dem nostalgischen langsamen Satz hat es dem Geiger Oscar Bohórquez angetan. Er schätzt ihren besonderen Charakter und ihren Kontrastreichtum. Ihre "Dichte und Konzentration an Klängen, Rhythmen und Melodien", denen man sofort das Brasilianische anhöre. "Es ist ein starkes, einfach ein sehr bewegendes Stück.", so Bohórquez.

Verschollen in Paris

Etwa in derselben Zeit, als Guarnieri die Sonate schrieb, in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, war er in Paris – der Stadt, die Oscar Bohórquez sehr am Herzen liegt. Guarneri, so hat es dessen Witwe Bohórquez erzählt, sei dort in ein Taxi gestiegen, mit einer soeben zuende komponierten Sinfonie. Als Guarneri aus dem Taxis stieg, habe er dort das Manuskript, sein einziges Exemplar der Partitur, vergessen.

"Das Taxi ist weitergefahren und seitdem ist diese Sinfonie verschollen. Er hat sie nie wiedergefunden", bedauert Oscar Bohórquez.

Rund 70 Jahre ist das heute her. Doch wer weiß, vielleicht taucht die Sinfonie eines Tages doch noch einmal auf. Die Violinsonate ist glücklicherweise erhalten. Und als Bohórquez dem Pianisten Frank Braley vorschlug, sie gemeinsam aufzunehmen, war Letzterer sofort dabei – und brachte seinerseits ein Werk ins Spiel.

Wie ein Parfum "unter die Haut"

"Graceful Ghost" - "Anmutiger Geist" - von William Bolcom, einem zeitgenössischen US-amerikanischen Komponisten. Für den Geiger Oscar Bohórquez war dieser "Ragtime" voller typisch amerikanischer Rhythmen eine Entdeckung. Aber auch etwas Mysteriöses, und wie der Titel bereits andeutet, etwas Geisterhaftes hat das Werk.

Bolcom habe eine Musiksprache gefunden, die wie Duft oder Parfüm regelrecht "unter die Haut geht", so der Geiger.

Gleichsam unter die Haut geht das sehnsuchtsvolle Nocturne von Aaron Copland. Auch hier führt eine Spur nach Paris, wo der Amerikaner Copland das Stück komponiert hat und wo er – wie unter anderem Leonard Bernstein, Daniel Barenboim und Astor Piazzolla – ein Schüler der französischen Musikpädagogin Nadia Boulanger war.

Vier Erinnerungen

Die "4 Souvenirs" von Paul Schoenfield sind eine weitere Station der Reise, zu der das Musikerduo Braley und Bohórquez mit ihrem Album einladen.

Auch Paul Schoenfield war ein US-amerikanischer Komponist. Er war zudem jüdischer Abstammung und ist im vergangenen Jahr, 2024, in Israel verstorben. Häufig kombinierte er klassische Musik mit folkloristischen Elementen. Seine vier kleinen musikalischen Erinnerungsstücke hat Schoenfield 1990 geschrieben. Sie verbinden gewissermaßen Süd- und Nordamerika. So folgt auf die ersten beiden lateinamerikanischen "Souvenirs", einen Samba und einen Tango - ein Stück mit dem Titel "Tin Pan Alley", benannt nach jener Straße in Manhattan, in der sich mit den wichtigsten Musikverlegern einst das Machtzentrum der amerikanischen Musikindustrie befand.

"Ein ganz verrücktes, irre Stück", sei dieser Square Dance, sagt Bohórquez. Zuweilen denke man gar an Stravinsky, so modern klinge es.

Und auch technisch hat es das Stück in sich:

"Es geht äußerst schnell und wild hin und her, hoch und runter und in Millisekunden gibt es Wahnsinnssprünge!", beschreibt der Geiger die Herausforderung.

Schließlich, ganz am Ende, noch eine Überraschung: die "Bossa Merengova" - eine Mischung aus dem brasilianischen Tanz Bossa Nova und Merengue aus der Dominikanischen Republik. Nicht ein Amerikaner, sondern der Brite Mike Mower hat das Stück komponiert, als Teil seiner "Sonata Latino", ursprünglich ein Werk für Flöte und Klavier.

So ist die Bossa Merengova einerseits eine Exotin auf dem Album – dann aber wiederum so ganz und gar passend zu dieser Entdeckungsreise durch das "Unexpected America", das "unerwartete Amerika", das mit beinahe jedem Stück zum Tanz einlädt.

Oscar Bohórquez hofft, dass die süd- und nordamerikanische Musik auf dem Album andere Menschen genauso bewegen kann wie ihn selbst:

"Dass sie sich lange daran erinnern und vielleicht ein oder zwei der Werke als Lieblingsstücke in Erinnerung behalten, irgendwo im Herzen.“

Antje Bonhage, radio3

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