Gesprächsprotokoll - Martin Suter u. Benjamin von Stuckrad-Barre: "Kein Grund, gleich so rumzuschreien"
Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre sind – trotz eines Altersabstandes von fast 30 Jahren – beste Freunde, treffen sich oft und reden über Gott und die Welt. Worüber und wie sie miteinander reden, konnte man vor drei Jahren im munteren Gesprächsprotokoll "Alle sind so ernst geworden" nachlesen. Weil es so schön war und das Buch ein Bestseller wurde, legen die beiden jetzt nach: "Kein Grund, gleich so rumzuschreien" ist ihre neue rhetorische Balgerei.
Einen Moderator brauchen die beiden Plaudertaschen nicht. Sie finden immer etwas, worüber es sich zu reden lohnt, irgendein Wort, ein Thema, ein Ärgernis, etwas, was ihnen auf den Nägeln brennt oder auf dem Herzen liegt. Dann hangeln sie sich vorwärts, kommen von Hölzchen auf Stöckchen, fallen sich ins Wort, beleidigen den anderen ironisch lächelnd ein bisschen, um ihn zum Widerspruch zu reizen und ihn dazu zu bringen, sprachlich und gedanklich etwas zu wagen und den Weg vom kleinen banalen Alltagsgespräch über Modefirlefanz und andere Mätzchen zu verlassen und in den gefährlichen Abgrund der Seele und den politischen Wahnsinn der Welt zu blicken: über Verlust und Verrat zu sprechen, sich über die von Wut getriebenen Zeitgenossen zu wundern, die keine Geduld haben, ständig beleidigt sind, sich beschweren und immer nur laut rumschreien.
Freundschaftliche Kabbelei
Es gibt leider kein Vor- und kein Nachwort, keine Erklärung zu Zeit, Ort und Umstände der Gespräche. Aber aus Nebenbemerkungen kann man schließen, dass die beiden sich mal in Martin Suters Haus am Zürichsee, mal in der Berliner Hotelsuite von Stuckrad-Barre treffen, auch mal zusammen Urlaub machen und am Pool zu einer neuen Runde ihrer rhetorischen Scheingefechte zusammenkommen, dann die Aufnahme-App ihrer Mobiltelefone betätigen und die Früchte ihrer freundschaftlichen Kabbelei später im Buch unter einer beliebigen Überschrift wiedergeben.
Neunzehn Gespräche
Abwechslung und Überraschung ist das Plauder-Prinzip, meistens wissen sie selbst nicht, worüber sie an diesem oder jenem Tag eigentlich reden wollen, sondern fangen einfach an: Schauen aus dem Hotelfenster und sehen im Garten einen niedlichen Rasenmäh-Roboter, der stoisch seine Runden drehen. Sie stellen sich vor, wie es wäre, wenn sich einer dieser Roboter in einen anderen vom Nachbargrundstück verlieben würde, sie sich an der Ladestation treffen und dort ihrer von der KI inspirierten Beziehung nachgehen, über Schönheit und Schrecken der immer gleichen Tagesabläufe plaudern und die Idee aushecken, das Programm zu sabotieren, einfach auszusteigen und abzuhauen.
Einmal bittet Suter vor einem Gespräch um etwas Geduld, er müsse noch den Tulpen Wasser geben, woraufhin Stuckrad-Barre leicht angewidert entgegnet: "Schnittblumengießen – so frühmorgens schon der Vanitas-Gedanke, du liebes bisschen." Schon mäandern sie sich rhetorisch fort über die Unsitte von Trockenblumen-Gestecken, die jedes Hotel-Zimmer verunstalten und jedes romantische Liebes-Abenteuer im Keim ersticken, kommen schließlich zu Themen wie Tod und Verwesung, fragen sich, was eigentlich der Unterschied ist zwischen "Mitleid" und "Beileid", was es bedeutet, jemanden zu verlieren und zu betrauern.
Insgesamt gibt es 19 solcher Gespräche, die keinen rechten Anfang und kein wirkliches Ende haben: Mal sind sie nur ausgelassene Blödelei, mal zeugen sie von Melancholie, Traurigkeit und Todesfällen, die ihnen auf der Seele liegen.
Überall lauern Verletzungen
Jedes Gespräch, auch wenn es unter harmlosen Überschriften läuft wie "Camping" oder "Sehtest", "Reisebüro" oder "Eitelkeit", hat einen doppelten Boden, überall lauern psychische Verletzungen. Selbst wenn sie nur über ihren Faible für schicke Anzüge und teure Krawatten und ihre musikalischen Vorlieben reden, kommen sie immer auch auf die Personen zu sprechen, mit denen sie diese Vorlieben geteilt haben, die aber inzwischen verstorben sind.
Wenn sie über Sisyphos und Sinn-Suche sprechen, denkt Suter an seine verstorbene Ehefrau, an seinen im Alter von drei Jahren gestorbenen Sohn, an seine im biblischen Alter von über hundert Jahren sanft entschlafene Mutter und das rätselhafte Foto, das er kurz vor ihrem Tod gemacht hat: Da stehen die Zeiger der Wanduhr auf 5 nach Zwölf. Wenn sie von Uhren und abgelaufener Zeit reden, denkt Stuckrad-Barre an seinen Vater, von dessen Tod er zufällig durch eine Nachricht auf Instagram erfuhr.
Seit Jahren waren die beiden zerstritten, der Versuch eines klärenden Gespräches ging gründlich daneben. Deshalb wollte Stuckrad-Barre seinen hartherzigen, schlagenden, schreienden Vater einfach nur vergessen. Doch dass er von seinem Tod erst Wochen nach der Beerdigung zufällig im Internet erfährt, macht ihn fassungslos. Trauer und Bitternis habe er aber nicht empfunden, sondern "einfach nur: kein Gefühl".
Ein sympatisches, unaufgregtes Buch
Über Literatur im allgemeinen und ihre eigenen Bücher im besonderen reden sie nicht. Denn Schriftsteller, die ihre eigenen Werke interpretieren und analysieren, sind ihnen ein Graus. Sie finden Autoren, die ihre politischen Botschaften heraus posaunen und auf jedem Podium sitzen, genauso unerträglich wie Autoren, die eigens betonen, keine Agenda zu haben.
Viel lieber als über die Literatur reden sie über die Liebe, denn das ist für sie eigentlich ein und dasselbe. Wenn Suter meint: "Die Liebe ist ja ein Thema, das das ganze Leben beherrscht", ergänzt Stuckrad-Barre: "Es gibt gar kein anderes Thema, auch im Schreiben. Alle Kunst handelt doch sowieso in irgendeiner Art von der Liebe."
Auch wenn das ein bisschen klischeehaft klingt, wärmt es doch unser müdes Herz in einer finsteren Zeit der Krisen und Kriege. Es ist ein sympathisches und unaufgeregtes Buch, das die Freundschaft über Altersgrenzen hinweg feiert und beweist, das auch grundverschiedene Menschen sich verstehen und miteinander witzige und kluge, komische und traurige Gespräche führen können.
Frank Dietschreit, radio3