Roman - Tove Ditlevsen: "Vilhelms Zimmer"
Innerhalb von nur drei Jahren hat der Aufbau Verlag die in Deutschland bis dahin kaum bekannte dänische Autorin Tove Ditlevsen übersetzt und zu spätem Ruhm verholfen. In Dänemark war sie schon zu Lebzeiten ein Star und mischte die Literaturszene der 50er bis 70er Jahre auf. Sie wird heute mit Annie Ernaux oder Karl Ove Knausgård verglichen. Inzwischen gibt es sowohl eine Sammlung ihrer Erzählungen ("Böses Glück") als auch die "Kopenhagen-Trilogie" über ihren Werdegang vom armen Arbeitermilieu zur gefeierten Schriftstellerin in deutscher Sprache. Heute erscheint nun ihr letzter Roman, der kurz vor ihrem Tod erschienen ist: "Vilhelms Zimmer", der als ihr Meisterwerk gilt.
"Vilhelms Zimmer" beginnt mit dem Ende. Eine geisterhafte Figur sieht zu, wie ein Zimmer zerstört wird, Vilhelms Zimmer:
"Tag für Tag sah ich die fortschreitende Zerstörung durch die schmutzigen Fenster, wenn ich ohne einen anderen Grund dort vorbeiging. Reglos stand ich draußen auf dem Boulevard und starrte zu den weißen Zerstörern hinein, die stets so taten, als bemerkten sie mich gar nicht."
Die "weißen Zerstörer"- die Bauarbeiter, die ein altes Haus modernisieren - können die Ich-Erzählerin nicht sehen, denn sie ist ein abstraktes Wesen: Sie ist die Autorin Tove Ditlevsen, sie ist ihr Alter Ego Lise Munde, sie ist eine reine Kunstfigur, sie ist ein Geist: "
Ich möchte ein Buch schreiben über Vilhelms Zimmer und alles, was darin geschah oder davon ausging; jene Ereignisse, die zu Lises Tod führten, den ich nur überlebt habe, damit ich ihre und Vilhelms Geschichte aufschreiben kann. Einen anderen Sinn hat mein Dasein nicht."
Ende einer Liebe und eines Lebens
Für dänische Leser war zur Zeit des Erscheinens von "Vilhelms Zimmer" 1975 klar, wer Lise sein sollte und wer Vilhelm: Die berühmte skandalumwitterte Autorin Tove Ditlevsen und ihr vierter und letzter Ehemann, der Zeitungsredakteur Victor Andreasen. Tove Ditlevsen war als Lyrikerin sehr beliebt und für ihre biografische "Kopenhagen-Trilogie" gefeiert worden. Zugleich waren ihre psychischen Probleme und Süchte allgemein bekannt. Ihr Mann war eine öffentliche Figur, die durch Ditlevens Literatur öffentlicher wurde, als ihr lieb sein konnte.
Doch "Vilhelms Zimmer" ist keine gradlinig realistisch erzählte Autobiografie einer schrecklichen Ehe. Es ist eine vollkommen phantastische, verwirrende, alptraumhafte, komplexe und zugleich auf unheimliche Weise schöne Erzählung über das Ende einer Liebe und eines ganzen Lebens.
Nichts ist wahr und doch wahrhaftig
Nichts, was gesagt wird, muss der Wahrheit entsprechen und doch wirkt es wahrhaftig, egal wie sehr die Erzählerin mit Realität und Fiktion spielt:
"Aber es interessiert mich nicht, ob es Frau Thomsen jemals gegeben hat. Sie ist ein Zipfel meines aufgelösten Bewusstseins, der nun auf der Welle von Wörtern davontreibt, sich an sie klammert und um Hilfe bittet, so wie auch ich meine Leser um Hilfe bitte, ja sogar darum, mich zu lieben, ganz unabhängig davon, in welchen Gestalten mein Gesicht, fließend und unbegreiflich wie eine Spiegelung im bewegten Wasser, hinter anderen Gesichtern auftauchen wird, die man viel lieber festhielte."
Die anderen Gesichter sind neben Lise, der Schriftstellerin, Frau Thomsen, die grausige Vermieterin, Kurt, der dubiose Untermieter, Tom, der engelsgleiche Sohn, Mille und Vera, die Geliebten des Mannes und vor allem der Mann selbst, Vilhelm. Das frisch getrennte, aber noch nicht geschiedene Ehepaar kann ohneeinander nicht sein und schadet sich und anderen doch auf grausame Weise, wenn es zusammen ist. Was man heute eine toxische Beziehung nennen würde, entfaltet sich fast unerträglich Seite für Seite:
"Dafür wirst du noch büßen", knurrte Vilhelm. "Dass du mich in eine so lächerliche Komödie mit hineingezogen hast. Diese aufgeblasenen Künstler. Und wenn ich dann daran denke, dass ohne mich nie etwas aus dir geworden wäre! Als ich dich kennenlernte, warst du nichts weiter als eine lallende Tablettensüchtige. Du kanntest weder Rilke noch Eliot noch Proust, und jetzt machst du nichts anderes, als sie zu kopieren."
"Willst du dich scheiden lassen?", fragte ich panisch.
"Nein, meine Liebe, so leicht kommst du mir nicht davon.“
Schillernder Geist einer bemerkenswerten Autorin
Doch trotz der unglücklichen Liebe, der psychischen und finanziellen Sorgen, trotz all der merkwürdigen Gestalten in Lises Leben, und sogar trotz der suizidalen Wünsche, springt zwischen den Sätzen immer wieder die Lebenslust hervor und ein manchmal ganz unerwarteter Humor:
"Die beiden erbrachen sich den ganzen Flug über in die dafür vorgesehenen Tüten, versäumten es aber dennoch nicht, uns immer wieder verärgerte Blicke zuzuwerfen. Ich dachte an einen Satz aus einer Erzählung von Dorothy Parker, in der es um eine Frau geht, die gnadenlos auf den Abgrund zusteuert: 'Lieber Gott, bitte mach, dass sie immer betrunken bleibt.' Das war ich in den darauffolgenden vierzehn Tagen dann auch durchgehend.“
Tove Ditlevsen glänzt in ihrem letzten Roman "Vilhelms Zimmer" mit all ihrer sprachlichen Größe und all den Themen ihrer deutlich stringenter und klassischer erzählten Kopenhagen-Triloge: ihre Liebe zu Sprache und Literatur, ihre schwierige Kindheit und die unglücklichen Beziehungen zu den Männern in ihrem Leben. Vor allem aber bleibt trotz aller Tragik so wie am Anfang der schillernde Geist einer bemerkenswerten Autorin zurück.
Irène Bluche, radio3