Berlinale | Wettbewerb - "La Tour de glace"
In ihrem neuesten Film variert Lucile Hadžihalilović Hans Christian Andersens Märchen "Die Eisprinzessin" als Film-im-Film-Geschichte mit Coming of Age-Elementen. Neben Marion Cotillard als Schauspieldiva und Eiskönigin glänzt die Newcomerin Clara Pacini in ihrer ersten großen Rolle. In Nebenrollen sind August Diehl und das Regie-Enfant-Terrible Gaspar Noé zu sehen, der im Film seiner Lebensgefährtin einen Regisseur mit Hitchcock-Akzenten spielt.
Das klassische Märchen mit seinen vielschichtigen Interpretationsmöglichkeiten fungiert als Startrampe für eine vielfältige Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion, Rolle und Realität, Schönheit, Ruhm und Vergänglichkeit.
Düstere Märchenpoesie
"La tour de glace" ist zugleich Märchen, Alptraum und ein Meta-Film übers Filmemachen, mit Reminiszenzen an "All about Eve", in dem Bette Davis als alternder Schauspielstar eine junge Kollegin unter ihre Fittiche nimmt, von der sie zunehmend überflügelt wird. Jeanne (Clara Pacini) ist ein durch den Tod der Mutter traumatisierter Teenager. Aus einem Waisenhaus in den verschneiten Bergen reißt sie aus, landet irgendwann in den 70er Jahren in einer kleinen Stadt und steigt nachts durch ein Fenster in den Keller einer großen Lagerhalle, wo sie in einer Kammer auf einem Stoffhaufen einschläft. Beim Aufwachen realisiert sie, dass sie sich in einem Filmstudio befindet, in dem ausgerechnet das Märchen "Die Schneekönigin" verfilmt wird, zu dem sie eine besondere Beziehung hat.
Heimlich und völlig fasziniert beobachtet sie die von Marion Cotillard verkörperte kapriziöse Kino-Diva Cristina, stolpert dann als Statistin in die Dreharbeiten und bald auch in den Bannkreis dieser glamourösen, traurigen und manipulativen, innerlich vereisten Eiskönigin.
Künstliche Überhöhung der Natur
Gedrosselt und konzentriert beschwört Lucile Hadžihalilović eine zugleich märchenhaft-poetische und beklemmend-kalte Atmosphäre, in der jedes Versprechen, jede Verheißung mit einer Enttäuschung, einer Gefahr verbunden ist. Mit Nebel, Schnee und Eiskristallen setzt sie einen naturhaften Grundton, den sie mit Soundeffekten, optischen Tricks wie Spiegelungen, Lichtreflexen und Nebeldünsten immer wieder künstlich überhöht, mit allen möglichen Tricks, die die Wahrnehmung verunsichern: im Schneegestöber, in kaleidoskopischen Brechungen der Spiegelscherben und mit unheimlichem Sounddesign.
Fern jeglicher Disney-Lieblichkeit hat sie ein düster-vieldeutiges Märchen für Erwachsene komponiert, angereichert mit Horrorelementen, Traumdeutungen und Traumabewältigung. Mitten drin die junge Schauspielerin Clara Pacini, die ihrer Jeanne in ihrer ersten Hauptrolle eine faszinierende Mischung aus stillem Ernst, abgründiger Melancholie und kindlicher Verzauberung mitgibt und damit zur ersten Kandidatin für einen Schauspiel-Bären wird.
Anke Sterneborg, radio3