Berlinale | Wettbewerb - "If I Had Legs I'd Kick You"
Die New Yorker Regisseurin Mary Bronstein ist eine Vertreterin des sogenannten Mumble Core-Kinos, sehr stark in der Realität verwurzelt und immer ein bisschen vernuschelt. Zudem ist sie Autorin feministischer Theorien und bekannt für Geschichten über komplizierte Frauen. "If I Had Legs I'd Kick You" ist ihr zweiter Spielfilm. Es geht um Wut, die offenbar durch Versehrtheit gebremst wird.
Im Zentrum des Films steht eine Frau und Mutter: Linda, gespielt von Rose Byrne. Sie leidet unter ihrer permanent atemlosen Überforderung durch die Abwesenheit ihres Mannes, der mehrere Monate auf Dienstreise ist und ihren Alltag aus der Ferne besserwisserisch kommentiert, durch ihre kleine Tochter, die eine mysteriöse Krankheit hat, ständig künstlich ernährt werden muss, auf die sie unablässig mit Engelszungen einredet, weil sie nicht genug isst, der sie keinen Hamster kaufen will, die in die Schule eskortiert werden will, unter Lehren und Ärzten, die von Mutter und Kind Unmögliches erwarten ...
Der Alltagswahnsinn einer berufstätigen Mutter
Mit allem und jedem hat Linda zu kämpfen. Mit dem Parkwächter, der sie daran hindert, vor der Schule in zweiter Reihe zu halten, mit ihrem Therapeuten, von dem sie sich nicht verstanden fühlt, mit ihren bedürftigen Patientinnen – auch sie ist Therapeutin. Alles in allem: der ganz normale Wahnsinn einer berufstätigen, im Grunde alleinerziehenden Mutter mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen. Und dann fällt ihr irgendwann auch noch buchstäblich in einem Zimmer ihrer Wohnung die Decke auf den Kopf.
All das zeigt der Film radikal subjektiv aus Lindas Perspektive - mit einer Kamera, die ihr immer extrem ungemütlich nah auf die Pelle rückt. Im Grunde ist der Film eine zugespitzte Version des Horror-Arbeitstages, den Leonie Benesch in Petra Volpes Panorama-Film "Heldin" auf der chirurgischen Station eines Krankenhauses erlebt.
Reale Überforderung oder psychische Krankheit?
Der Film ist eine Tour de Force für Rose Byrne, die in jeder Einstellung alles gibt. Ein echter Seelenstrip, für den Mary Bronstein mit einem radikalen Kunstgriff arbeitet: Lange Zeit ist das Kind nicht zu sehen, nur ihre Stimme zu hören, und die hydraulischen Pumpgeräusche der Maschine, mit der sie über einen Schlauch im Bauch künstlich ernährt wird. Das bedeutet, dass Lindas Wahrnehmung quasi absolut ist, nie relativiert wird, während gleichzeitig die Bilder immer stärker in Richtung von Alptraum und Horrorfilm gehen: Das Loch in der Decke ist nicht einfach staubiger Schutt, sondern unheimlich organische Masse - schmierig-schimmelnd und suppend entwickelt es ein kreatürliches Eigenleben. Und je erfinderischer und fantasievoller Bronstein mit filmischen Mitteln, mit Bildern und Sounddesign arbeitet, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie, bis es immer fraglicher wird, was hier wirklich passiert oder sich womöglich nur im Kopf der zunehmend gestressten abspielt Linda passiert.
Dabei ist "If I Had Legs I'd Kick You" kein feministischer Thesenfilm, sondern eine ganz unmittelbare, geradezu immersive Erfahrung, die mit großer Lust, Fantasie und Radikalität im Umgang mit den filmischen Mitteln schillert und glänzt.
Anke Sterneborg, radio3