Roman - Christoph Hein: "Das Narrenschiff"
Wie kein anderer schreibt Christoph Hein über die DDR, die Wendezeit und das Leben im wiedervereinigten Deutschland und bezeichnet sich selbst auch als Chronist. In seinem neuen Roman "Das Narrenschiff" scheint er diese Aufgabe sehr ernst zu nehmen: Er erzählt die Geschichte der DDR von der Staatsgründung bis zur Einheit.
750 Seiten braucht Christoph Hein, um das Panorama eines untergegangenen Staates zu entwerfen. Eingerahmt sind diese Seiten von ein und demselben Bild: Ein Mädchen, Katinka, darf während einer Feierstunde als Klassenbeste neben dem ersten Präsidenten der DDR – Wilhelm Pieck – sitzen und schaut schüchtern zu ihm auf, während Pieck wohlwollend auf sie herablächelt. Diese Momentaufnahme wird später auf eine Postkarte gedruckt, die in der ganzen DDR Verbreitung findet.
Am Ende der 750 Seiten, nach der Wiedervereinigung, findet die inzwischen 47-jährige Kathinka beim Aufräumen diese Postkarte wieder, drückt kurz einen Kuss auf ihr junges Abbild und zerreißt es anschließend in kleine Schnipsel. Im Reinen mit sich, aber entschlossen, diesen Teil der Geschichte endgültig hinter sich zu lassen. Ob sich von dort auf den Autor schließen lässt, der demselben Jahrgang wie seine Figur Katinka angehört? Ein voluminöses Epochenwerk über die DDR, um endgültig damit abzuschließen? Wer weiß.
Bekannte Themen und Autobiografisches
In jedem Fall greift Christoph Hein vieles von dem auf, was er schon in seinen früheren Romanen behandelt hat. Ein übereifriger Kommunist mit verschwiegener Nazi-Vergangenheit, ein homosexueller Hochschulprofessor, Parteifunktionäre, die sich gegenseitig absägen, sind nur ein Teil des auftretenden Personals. Auch autobiografische Anleihen finden sich: Katinka heiratet später, missbilligt von den Eltern, einen Mann, der als Pfarrerssohn zunächst nicht Abitur machen durfte, später aber Logik studiert – wie einst Hein selbst.
Die Partei hat immer recht
Im Mittelpunkt dieses Romans stehen die Gründungsväter und -Mütter der DDR, überzeugte Kommunisten und Funktionäre, Idealisten, Pragmatikerinnen und Mitläufer und ihre Kinder. Dabei ist der Titel Programm: Hein zeichnet die DDR als Narrenschiff, auf dem die Menschen hin und hergeschaukelt werden, oder gerade noch selbst am Steuer saßen und im nächsten Moment über Bord gehen. Die DDR ist bei Hein ein von Anfang an dem Untergang geweihter Staat, regiert von Ungebildeten, die Parteidisziplin über Wissen stellen.
Es gilt die Maxime: Die Partei hat immer recht. "Und wenn die Partei sich irrt, machst du einen Fehler, wenn du diesen Irrtum nicht teilst", erklärt ein Mitglied des Zentralkomitees dem in Ungnade gefallenen Ingenieur für Hüttenwesen und Erzbergbau, der es wagte, der Einschätzung der Partei zu Investitionen und Produktionsplänen zu widersprechen und dafür abgestraft, degradiert und geächtet wird.
Schwerfällig, aber mitreißend
Christoph Hein erzählt all das aus beobachtender Distanz. Einmal mehr ist er der geübte Chronist, der nicht ins Innenleben der Figuren eintaucht, sondern sie auf ihren Fahrwassern zwischen Alltag, Staatsdoktrin, Parteibürokratie, Eheleben, Freund- und Liebschaften, Wohnungssuche und Theatergruppen beobachtet und begleitet, durch private wie berufliche Stürme und Ebben hindurch, vor historischen Markern wie Mauerbau, Juni-Aufstand, Prager Frühling und Mauerfall.
Auf vielen Seiten ist "Das Narrenschiff" trockene Geschichtsstunde und eher schwerfälliger Tanker statt elegantes Segelschiff. Und doch: Die erzählten, miteinander verwobenen Biografien durch Jahrzehnte und über zwei Generationen hinweg entwickeln einen überraschenden Sog. Man schaukelt wach durch alle Untiefen und bleibt bis zum Schluss an Bord, beeindruckt von diesem historischen und gesellschaftlichen Panorama, dieser Studie über Opportunismus und Optimismus.
Nadine Kreuzahler, radio3