Geschichten für jeden Tag - Monika Helfer: "Wie die Welt weiterging"
Ein Buch als Fundgrube oder als Wundertüte: Monika Helfer gibt sich in ihrem opulenten Band "Wie die Welt weiterging" mit nicht weniger als 365 Geschichten zufrieden. Entstanden als Kolumnen für die "Vorarlberger Zeitung" dienen sie nun als tägliche Begleiter für ein ganzes Jahr. Die Österreicherin Monika Helfer, eine der produktivsten Autorinnen der Gegenwart, schreibt sich damit in die Tradition der Kalendergeschichten hinein.
Man kann dieses Buch überall aufschlagen und überall beginnt eine Geschichte. 365 Geschichten sind es auf 770 Seiten, für jeden Tage eine. Mit Monika Helfers "Wie die Welt weiterging" kommt man also durch ein Jahr. Die meisten Geschichten sind etwa eineinhalb Seiten lang und erlebten ihre Premiere als Zeitungstexte in den "Vorarlberger Nachrichten". Dort, in der Nähe von Bregenz, lebt Monika Helfer zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier. Die beiden sind das wohl produktivste Autorenpaar der Gegenwart. Fast macht es den Eindruck, sie schreiben um die Wette.
Das klassische Genre der Kalendergeschichten gekonnt bedient
Monika Helfer, von der in den letzten drei Jahren die Romane "Vati", "Löwenherz" und "Die Jungfrau" erschienen sind, hat ihre 365 Geschichten nebenbei verfasst, doch sie lesen sich nicht wie Nebenprodukte für die Tageszeitung. Vielmehr bedienen sie gekonnt das klassische Genre der Kalendergeschichten, stehen also in der Tradition von Johann Peter Hebel oder Bertolt Brecht. Sie sind anekdotisch, parabelhaft, moralisch, aber immer so, dass man über die Moral nachdenken muss, falls es überhaupt eine gibt. Hat denn das Leben eine Moral? Sie versammeln merkwürdige Begebenheiten, erzählen aus dem Alltag der Menschen, handeln vom Leben und vom Tod und von der Liebe. Manche sind zeitlos, andere spielen vor dem Hintergrund historischer Ereignisse, so wie die Geschichte von den beiden Mädchen, die in einem Zug nach Kiew sitzen und beginnen, all ihre Kleider zu tauschen. Sie vereinbaren, die fremden Sachen so lange zu tragen, bis der Krieg zu Ende ist. Das kann ja nicht mehr lange dauern.
Einblicke in die Lebenswelt der Autorin
Manche Geschichten sind in der Ich-Form geschrieben und lassen die Lebenswelt der Autorin erkennen. Der Tod ihrer Tochter Paula, die 2003 im Alter von 21 Jahren auf einer Bergtour verunglückte, spielt immer wieder eine Rolle. Die Mutter besucht das Grab der Tochter oder geht den Weg, auf dem sie abstürzte und von einem Stein erschlagen wurde. Der Vater hat dort ihr Bild an einen Baumstamm genagelt. Die Trauer ist nie vorbei.
Erinnerungen an die eigene Kindheit sind ein kostbarer Rohstoff der Erzählerin. Die meisten Geschichten aber wurden ihr zugetragen. Monika Helfer schreibt auf, was sie sieht und hört und hat immer ihr Notizbuch dabei, sei es im Zug oder im Wartezimmer einer Arztpraxis. Jedes Gesicht kann ihr Anlass für eine Geschichte sein; das Aufgefundene, das Erfundene und das Ausgeschmückte gehen nahtlos ineinander über. Auch James Joyce, sagt Helfer, habe mitten im Gespräch sein Notizbuch gezückt: "Beliebt macht einen das nicht!"
Eine literarische Fundgrube
Schreiben ist eben nicht diskret. Es erfordert "einen kalten, gleichgültigen Blick. Alles soll gleich viel gelten." Und doch sind Helfers Geschichten alles andere als kalt, und sie lassen auch nicht kalt. Sie zielen immer aufs Ganze, können in wenigen Sätzen ein ganzes trostloses Leben entfalten, ein Glück oder ein große Liebe nachzeichnen oder, auch das, eine Vergewaltigung bloß andeuten und gerade dadurch in aller Schrecklichkeit deutlich werden lassen.
Manche Stoffe drängen über die kurze Form hinaus und verlängern sich zur Serie, so wie die Geschichte des freudlosen Ehepaares, das durch die Wand zur Nachbarwohnung Abend für Abend das perlende Gelächter einer Frau hört und über die Konfrontation mit dem fremden Glück auf sich selbst zurückgeworfen wird.
Einen tages- oder jahreszeitlichen Bezug haben die Geschichten nicht. Man muss das Buch deshalb nicht von vorne nach hinten durchlesen, sondern kann es irgendwo aufschlagen und sich vom Zufallsprinzip leiten lassen oder im Inhaltsverzeichnis nach einem ansprechenden Titel suchen. So oder so: "Wie die Welt weiterging" ist eine Fundgrube, die sich wohl auch in einem ganzen Jahr nicht ausschöpfen lässt.
Jörg Magenau, radio3