Astrid Viciano: Die Formel des Widerstands © Galiani Berlin
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Sachbuch - Astrid Viciano: "Die Formel des Widerstands"

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Astrid Viciano arbeitet seit über 20 Jahren als Wissenschaftsjournalistin. Als Redakteurin war sie für "Stern" und "Focus", "Die Zeit" und die "Süddeutsche Zeitung" tätig. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Jetzt veröffentlicht sie im Berliner Galiani Verlag ein Buch über die Gründe und Abgründe der Atomforschung, die seit dem Oscar-prämierten Film über den Physiker J. Robert Oppenheimer und das von ihm geleitete Manhattan-Projekt wieder in den Focus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt ist. Das Buch heißt "Die Formel des Widerstands. Wie Kernphysiker mithalfen, die Atombombe der Nazis zu verhindern".

Astrid Viciano kreist das Thema politisch ein, lotet es wissenschaftlich aus, zeichnet die Biografien der Beteiligten nach, zeigt, wie gefährlich es ist, sich einem autokratischen System zu widersetzen, wie viel Mut nötig ist, um die Pläne eines Diktators zu durchkreuzen.

Wer von Kernphysik keine Ahnung hat, braucht nicht zu verzagen

Das Manhattan-Projekt von J. Robert Oppenheimer, mit dem die USA das Wettrennen um den Bau der Atombombe für sich entschied, Atombomben über Japan abwarfen, hunderttausendfachen Tod bewirkten und das Ende des Krieges einleiteten, hat eine lange Vorgeschichte: Sie führt vor allem nach Deutschland und Frankreich, wo an verschiedenen Forschungszentren seit Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv mit Radioaktivität, Atomen und Neutronen, mit Kernspaltung und Freisetzung von Energie zu zivilen und militärischen Zwecken geforscht wurde.

Wer von Kernphysik keine Ahnung hat, braucht aber nicht zu verzagen: Denn Astrid Viciano schafft es spielend, für das Schwiege einfache Worte zu finden und den kaum verständlichen Wissenschaftsjargon zu entzaubern und nachvollziehbar zu machen. Sie möchte, dass auch Laien verstehen, wie steinig und lang der Weg war, bis Otto Hahn in Berlin die Kernspaltung entdeckte und J. Robert Oppenheimer in Los Alamos die Kernspaltung als Kettenreaktion ablaufen lassen und ungeheure Mengen an tödlicher Energie freizusetzen konnte.

Viciano konzentriet sich auf zwei Wissenschaftler

Damit wir verstehen, dass es auf den Einzelnen ankommt, der für seine Tätigkeit Verantwortung übernehmen und entscheiden muss, wer seine Erkenntnisse benutzen darf und wer nicht, konzentriert sie sich auf zwei Wissenschaftler, die gegensätzlicher kaum sein könnten - und doch am gleichen antifaschistischen Strang zogen:

Zum einen Wolfgang Gentner, der nach dem Krieg das Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg leitete und das Europäische Zentrum für Kernforschung in Genf mit aufbaute: Ein scheuer Mann, der stets im Stillen wirkte und erst kurz vor seinem Tod einen Bericht über seine Zeit in Frankreich, seine Kontakte zur Résistance und seinen ebenso lautlosen wie gefährlichen Widerstand gegen die Nazis verfasste.

Zum anderen Frédéric Joliot-Curie, verheiratet mit Irène Curie, der Tochter von Nobelpreisträgerin Marie Curie. Auch das Ehepaar Joliot-Curie erhält für seine Forschungen über Radioaktivität und Kernspaltung den Nobelpreis.

Gefährliches Versteckspiel

Bevor Frédéric Joliot-Curie in den dunklen Zeiten des Kalten Krieges in Ungnade fällt und - ähnlich wie Oppenheimer in den USA - in den Sog antikommunistischer Verfolgung gerät, gehört er in Frankreich zu den meist bewunderten Menschen und ist ungemein beliebt. Denn er hatte sein Pariser Institut während des Krieges zum Zentrum des Widerstands gemacht, in den Räumen des Labors Waffen versteckt und mit den Genossen der Résistance Pläne für Attentate gegen die Nazi-Besatzung Frankreichs ausgeheckt. Er schließt sich der kommunistischen Volksfront an und wird zu ihrem Präsidenten ernannt. In seinem Institut, das er auch unter Nazi-Besatzung weiter betreibt, steht der damals größte und leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger, der für die Kernforschung genauso wichtig ist wie das Uran und das "schwere Wasser", das er in Kanistern bunkert und vor den Nazis versteckt.

Um herauszufinden, was Joliot-Curie in seinem Institut treibt und wie weit seine Atomforschung gediehen ist, an der auch der Deutsche Uranverein, der den Bau der Atombombe beschleunigen will, großes Interesse hat, schicken die Nazis Wolfgang Gentner 1940 nach Paris: Doch der notgedrungen in Nazi-Uniform auftretende Gentner spitzelt nur zum Schein, er unterläuft den Auftrag, er kennt Joliot-Curie gut, ist seit einem Studienaufenthalt Mitte der 1930er Jahre mit ihm befreundet und teilt seine antifaschistischen Ansichten.

Sie beginnen ein gefährliches Versteckspiel, eine ausgeklügelte Scharade: Gentner gibt immer nur spärliche Informationen an seine Vorgesetzten weiter, schaut weg, wenn im Institut der Teilchenbeschleuniger sabotiert und für die Nazis unbrauchbar gemacht wird, setzt sich für verhaftete Wissenschaftler und drangsalierte Juden ein, auch für Paul Langevin, Mentor von Joliot-Curie, Freund von Albert Einstein und zeitweiliger Geliebter von Marie Curie: Gentner und Joliot-Curie schaffen es, Langevin und viele andere Kollegen aus dem Gefängnis zu holen, und als Joliot-Curie selbst verhaftet wird, setzt sich Gentner für seinen Freund ein, stellt ihm das Zeugnis eines harmlosen, unpolitischen Wissenschaftlers aus und sorgt dafür, dass er wieder frei kommt.

Viciano nutzt das, um den zunehmenden Nazi-Terror in Frankreich ins Visier zu nehmen, die unmenschlichen Haftbedingungen in den Gefängnissen, die Verfolgung der Juden, die Transporte in deutsche Arbeits- und ins Vernichtungslager nach Auschwitz. Gentner ist auf stille Weise Joliot-Curie bei seinem Widerstand behilflich, bis er 1942 Frankreich verlassen muss und nach Berlin zum Verhör einbestellt wird.

Doch Gentner geschieht nichts, die Nazis haben keine Interesse mehr an Joliot-Curie und seiner Atomforschung, sie suchen nach anderen Mitteln, um ihr kriegerischen Werk fortzusetzen und merken gar nicht, dass französische, englische und amerikanische Kernphysiker ihre Erkenntnisse bündeln und in Los Alamos die Atombombe bauen.

Pure Spannung, stilistisch großartig, politisch aufrüttelnd

Astrid Viciano berichtet nicht chronologisch, sondern erzählt im Stile eines Thrillers, baut immer wieder neue Spannung auf, blendet vor und zurück, unterbricht den Erzählfluss für biografische Exkurse, politische Einschübe, physikalische Erkenntnisse.

Schon das erste Kapitel liest sich wie ein Polit-Krimi: Astrid Viciano kramt aus dem Dunkel des Vergessens die eiskalte Nacht des 9. März 1940 hervor, nimmt uns mit auf eine Autofahrt von Oslo bis in entlegene Berge an einen Fjord. Dort lagern in einer Fabrik die weltweit einzigen und von allen Kernforschern heiß begehrten Vorräte an "schwerem Wasser", eine Flüssigkeit, die damals unverzichtbar war für Experimente in der Atomforschung. Die deutschen Nazis haben bei der norwegischen Firmenleitung eine große Menge an "schwerem Wasser" bestellt: Doch die französischen Geheimdienste und Joliot-Curie erfahren davon und sorgen dafür, dass die Vorräte nicht in deutsche Hände geraten, sondern auf Umwegen erst nach Paris und später, als Hitlers Truppen Frankreich überrollen, nach England gebracht werden.

Nach diesem konspirativen Geheimdienst-Plot von 1940 spult die Erzählung zurück ins Jahr 1933 und wir erleben, wie der junge Wolfgang Gentner von Heidelberg nach Paris kommt, in den Zirkel um Marie Curie aufgenommen wird, den von seiner Arbeit und seinen Ansichten beseelten Frédéric Jolie-Curie kennenlernt, wie die "Formel des Widerstands" entwickelt wird und Kernphysiker mithelfen, die Atombombe der Nazis zu verhindern.

Das ist pure Spannung, stilistisch großartig, politisch aufrüttelnd. Besser geht es nicht.

Frank Dietschreit, radio3

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