Sachbuch - Virginia Woolf: "Roger Fry – Eine Biografie"
Das letzte Werk von Virginia Woolf, veröffentlicht ein Jahr vor ihrem Tod. Jetzt ist es zum ersten Mal auf Deutsch erschienen: Die Biografie des wirkmächtigen Kunstkritikers und Malers, ihres Freundes Roger Fry. Zugleich die kenntnisreiche Beschreibung eines Epochenwandels.
Man reibt sich die Augen anlässlich dieser Veröffentlichung – 82 Jahre nach dem Tod der großen Autorin. Schließlich gibt es eine vorbildlich edierte Woolf-Ausgabe im Fischer Verlag. Aber dieses letzte, ihrem Freund Roger Fry gewidmete Buch ist tatsächlich noch nie ins Deutsche übersetzt worden. Man kann dem Herausgeber und Übersetzer Tobias Schwartz und dem Aviva Verlag deswegen gar nicht genug danken für diese Veröffentlichung.
Roger Fry, der in England zweifelsfrei als einer der wichtigsten Kunstvermittler des 20. Jahrhunderts gilt, ist bei uns ziemlich unbekannt. Dass es sich dabei um eine absurde Leerstelle handelt – das begreift man nach der Lektüre dieser großartigen 400-Seiten Biografie.
Viel Material, souverän verarbeitet
"Der alte Magier" – so hat Tobias Schwartz sein kenntnisreiches Vorwort überschrieben, in dem er aus einem Brief von Virginia Woolf an ihre Nichte zitiert: "Glaubst Du, dass es möglich ist, die Biographie eines Menschen zu schreiben? Ich bezweifle es; weil Menschen einfach nicht greifbar sind."
Dass Virginia Woolf sich nach dem Tod des Freundes 1934 trotzdem an diese schwierige Aufgabe wagte, war Frys letzter Lebensgefährtin und seiner Schwester zu danken. Sie baten die Freundin um ein Lebensbild, stellten Briefe und Aufzeichnungen zur Verfügung. Viel Material, dass die Autorin souverän beherrscht und verarbeitet. Hinzukommen natürlich eigene Erinnerungen und die ihrer Schwester, der Malerin Vanessa Bell, mit der Fry eine Weile lang eine Liebesbeziehung hatte, und mit der er ein Leben lang eng befreundet war. Roger Fry war aber auch und vor allem eine der prägenden Figuren im legendären Bloomsbury Kreis.
Mehr als eine Biografie
Diese Biografie ist aber nicht nur das Lebensbild eines großen Kunstvermittlers. Sie beschreibt auch auf faszinierende Weise, wie und wann sich der Kunstgeschmack verändert. Wie radikale Kunstströmungen und –Auffassungen sich ändern, wie sehr Kunst überhaupt Anfang des 20. Jahrhunderts im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen stehen.
1910 verantwortet Roger Fry eine Ausstellung, die zum Skandal wird. Bilder von Manet, Cézanne, Gauguin oder Henri Matisse werden in der Presse als "Irrenmalerei" denunziert. 20 Jahre später werden die Bilder von den großen Museen gekauft (Roger Fry war eine zeitlang Kurator und wirkungsmächtiger Einkäufer des New Yorker Metropolitan Museums).
Virginia Woolf ging es in dieser literarisch-biografischen Kulturgeschichte um Roger Frys Verhältnis zur Kunst, um seinen Blick auf Bilder und Menschen, seine Umtriebigkeit, seine intellektuelle Wandlungsfähigkeit. Sie schreibt über ihn gleichzeitig aus Nähe und Distanz. Viele – vor allem erotische Details – kommen nicht vor, manche wichtige Personen sind ausgespart (die Schriftstellerinnen Edith Sitwell und Gertrud Stein).
Man hätte – schreibt Woolf – auch ein weniger schmeichelhaftes Porträt des Freundes zusammenstellen können. Aber für Woolf war er Vorbild und Mentor und sein Tod war – wie es in einem Nachruf hieß – "ein herber Verlust für die Zivilisation".
Manuela Reichart, rbbKultur