Jens Andersen: Tove Ditlevsen. Ihr Leben © Aufbau Verlag
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Biografie - Jens Andersen: "Tove Ditlevsen. Ihr Leben"

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Mit ihrer Kopenhagen-Trilogie ist die dänische Autorin Tove Ditlevsen in Deutschland erst in den letzten Jahren bekannt geworden, vor kurzem erschien auch erstmals ihr Erzählband "Böses Glück" auf Deutsch. In Dänemark war sie zu ihren Lebzeiten bis zu ihrem Tod 1976 eine schillernde Größe der Literaturszene. Jetzt ist die erste umfassende Biografie über sie im Aufbau Verlag erschienen - mit dem schlichten Titel "Tove Ditlevsen. Ihr Leben".

Bereits mit ihren ersten Gedichten sorgte Tove Ditlevsen für Aufsehen: als 20-Jährige mitten im Zweiten Weltkrieg schrieb sie scheinbar hemmungslos und leichtfüßig über Begehren und Sexualität, über das Leiden in der engen Welt der Kleinfamilie und der bürgerlichen Gesellschaft. Sie war eine weibliche literarische Stimme, die es so noch nicht gegeben hatte. Sie begeisterte und empörte ihr Leben lang mit ihren autofiktionalen Texten das Publikum und die Kritikerwelt. Als sie als gestandene Autorin in den renommierten Verlag Gyldendal aufgenommen wurde, begrüßte sie bei einem Fest zu ihren Ehren die anwesenden Journalisten auf ganz eigene Weise:

"... (U)nd plötzlich dröhnte ihre laute heisere Stimme über den Hof: 'Da steht ja Jens Kistrup – der einzige Kritiker in der dänischen Literatur, mit dem ich nicht gevögelt habe!'"

Als Unschickliche im eigenen Element

Bis auf Jens Kistrup selbst waren alle Kritiker peinlich berührt – und doch hätte es sie nicht überraschen müssen, wie Ditlevsens Biograf schreibt: "In ihrer Rolle als Anstößige, Anzügliche und Unschickliche war sie in ihrem Element.“

Andersen verwebt Ditlevens Leben mit ihrem Werk, so wie sie es selbst immer getan und propagiert hat: "Zu schreiben heißt, sich selbst auszuliefern. Sonst ist es keine Kunst. Man kann es kaschieren, aber man schreibt immer über sich selbst.“

Ihre schwierige Kindheit im Kopenhagener Arbeitermilieu, vier gescheiterten Ehen, drei Kinder von drei Männern, zahllose Aufenthalte in psychiatrischen Entzugskliniken: all das ist auch der thematische Kern ihres Werks.

Schreiben gegen alle Widerstände

Sie sah sich als Lyrikerin, doch war sie auch Journalistin und Prosa-Autorin – eins ihrer großen Werke ist ihre Kopenhagen-Trilogie mit den Bänden "Kindheit", "Jugend" und "Abhängigkeit". Sie entstanden mitten in einem Drogenentzug nach einer Schreibblockade, in einer Zeit, in der junge Autorinnen und Autoren an Ditlevsen vorbeizogen und sie als veraltet galt.

Der Psychiater Thorkild Vanggaard behandelte Ditlevsen an diesem Tiefpunkt ihres Lebens:

"Vanggaard hatte sich über ihren Wunsch nach der Schreibmaschine gewundert, da sie aufgrund ihrer schweren Medikation in den ersten paar Monaten kaum in der Lage sein würde, die Tasten zu treffen. Doch in diesem Punkt irrte der Oberarzt. Kurz nach ihrer ersten Sitzung begann Tove Ditlevsen einen literarischen Text zu schreiben. Es war der erste Entwurf zu einem neuen Buch nach mehr als zwei Jahren, und es entstand nicht nur ein erster kurzer Abschnitt mit dem Anfangssatz 'Am Morgen war die Hoffnung da', sondern ganze vier formvollendete Seiten."

Schonungsloses Comeback

Damit war ihr Comeback als Schriftstellerin gesichert. Doch trotz des Erfolgs litt sie an sich selbst und vor allem an ihrer Liebe zu ihren Ehemännern. Schonungslos berichtete sie sowohl von freudlosem als auch ekstatischem Sexualleben, der psychischen Krankheit des dritten Mannes oder von der physischen Abneigung gegen den ersten:

"Ich starre auf sein Doppelkinn, das über den Eckkragen quillt und immer leicht vibriert. Ich starre auf seine kleinen schmächtigen Hände, die sich nervös und ruckhaft bewegen.“

Die Leser erkannten unschwer in diesen Beschreibungen die Ehemänner Ditlevsens, die im Kulturbetrieb weithin bekannt waren, was die Lektüre besonders reizvoll machte.

Eine "Dr. Sommer" der dänischen Hausfrauen

Tove Ditlevsen hatte aber aus einem weiteren Grund eine große Fangemeinde: Sie beantwortete 20 Jahre lang Leserinnenfragen in der Zeitschrift "Familie Journal": Deprimierte Hausfrauen und rebellierende Teenager wandten sich an sie. Trotz oder gerade wegen ihres komplizierten Liebes- und Familienlebens galt sie als Instanz auf dem Gebiet der Liebesberatung - und das, obwohl sie oft eher sarkastisch antwortete, wie hier einer 15-Jährigen, die sich in einen verheirateten Mann verliebt hatte:

"Oh, welche Naivität! Wenn er noch alle Tassen im Schrank hat, begehrt er weder Deinen Körper noch Deine unreife Seele. Ich habe keinen Zweifel, dass Du bedeutend besser aussiehst als seine Frau, aber was das Aussehen betrifft, muss man sich mit Gleichaltrigen vergleichen. Seine Frau hat andere Qualitäten, gegen die Du nicht ankommst.“

Eine längst überfällige Würdigung

Jens Andersen lässt Tove Ditlevsen mit all ihrem bitterbösen Humor, ihrer literarischen Leidenschaft und ihrer inneren Zerrissenheit wieder auferstehen. Manchmal zeichnet er sie allerdings etwas zu rosarot: Das Schicksal ihrer drei Kinder wird kaum erwähnt, gegen den vierten Ehemann standen Missbrauchsvorwürfe im Raum. Ihre Entzüge in Kliniken werden als fast schon angenehme Hotelauftenthalte beschrieben, was nicht ganz der Realität der damaligen Psychiatrie entsprechen kann.

Dennoch: "Tove Ditlevsen. Ein Leben" liest sich wunderbar unterhaltsam und lehrreich und gibt dieser in Deutschland verkannten Autorin die Würdigung, die schon längst überfällig war.

Irène Bluche, rbbKultur