"Museum in Bewegung" und "Mark Bradford. Keep Walking" - Wiedereröffnung der Rieckhallen im Hamburger Bahnhof - Nationalgalerie der Gegenwart
Sie waren als wichtige Ausstellungsfläche des Hamburger Bahnhofs schon fast verloren. Jetzt präsentieren die vom Land Berlin in letzter Minute erworbenen Rieckhallen einen neuen Blick auf die eigene Sammlung, eine Einzelausstellung des afro-amerikanischen Künstlers Mark Bradford und: ein neues Konzept.
Fast anderhalb Jahre waren die Rieckhallen geschlossen. Ihre Wiedereröffnung zeigt sie nicht grundlegend verändert. Der nüchterne Lagerhaus-Charakter blieb erhalten und auch eine klimatechnische Ertüchtigung steht noch aus. Allerdings wurde die Abfolge der Räume abwechslungsreicher gestaltet: Der Parcours mäandert mehr, als dass man in starrer Abfolge Halle für Halle durchwandert.
Auf das Publikum zugehen
Das beiden Leiter des Hamburger Bahnhofs, Sam Bardaouil und Till Fellrath, die sich sehr darum bemühen, ein möglichst vielfältiges Publikum ins Haus zu holen, den Aufenthalt zu einem Vergnügen und für ganz unterschiedliche Gruppen Vermittlungsangebote zu machen, haben diesen Ansatz auch auf die Rieckhallen übertragen: Etwa auf halber Strecke – zwischen dem ersten Teil des Gebäudes, der Sonderausstellungen vorbehalten ist, und dem hinteren, der unter der Überschrift "Museum in Bewegung" der Sammlungspräsentation gewidmet ist, wurde zum einen eine Zone eingerichtet, wo Tische und Bänke zum Verschnaufen einladen und Steckdosen erlauben, das Handy aufzuladen, wenn der Akku vom vielen Fotografieren erschöpft ist.
Zum anderen bieten flexibel nutzbare Räume Platz für Workshops, ein Fotolabor und überhaupt Museumspädagogik nicht abseits, sondern mittendrin im Ausstellungsbereich.
Transformation und Transzendenz
Die weitläufigen Rieckhallen sind ideal um zu zeigen, was in der Gegenwartskunst gang und gäbe ist: großräumige Arbeiten und Installationen. Den größten Raum in der neuen Sammlungpräsentation nimmt Jeremy Shaw mit einer filmischen Installation ein, die gerade für die Sammlung der Nationalgalerie erworben wird. Der kanadische Künstler, der schon seit vielen Jahren in Berlin lebt, hat die gesamte Halle mit grauer Auslegeware auskleiden lassen. Auf mehreren, im Raum verteilten Leinwänden sieht man Tanzproben: Auf jeder Leinwand eine andere Gruppe von Tänzer:innen, eine andere Form tänzerischer Bewegung - mal roboterhaft, mal kämpferisch, mal sieht es eher nach Tanztherapie aus. Manches erscheint wie historisches Material, sogar Schwarzweiß, denn der Künstler teilweise mit altem Filmmaterial gedreht. Wie auch im Tanz selbst, wo ein bestimmtes Bewegungsrepertoire variiert wird, wiederholen sich manche Szenen, bis das Ganze immer ekstatischer wird . Aus Einzelnen wird immer mehr "die Gruppe", bis sich die Tänzer:innen buchstäblich auflösen und wie bei korrupten Bilddateien die Körper erst verzerrt und schließlich ganz in amorphe Farbwolken aufgelöst werden.
Transformation als eine Art Transzendenz: Mit Hilfe des Körpers über den Körper hinausgehen. Die schiere Größe dieser Installation hat auch einen körperlichen Effekt auf uns, auf das Publikum.
Selbstbefragung der Institution Museum
Indem Jeremy Shaws Arbeit auf Motive wie Spiritualität und Vergeistigung anspielt, berührt sie auch allgemeine Erwartungen an Kunst. Letztere sind ein durchgehendes Thema dieser Sammlungspräsentation, z.B. in der Serie "Apokryphen" der Leipziger Fotografin Ricarda Roggan, die vor dem immer gleichen Hintergrund, im immer gleichen Format Alltagsgegenstände berühmter Persönlichkeiten der letzten 300 Jahre "porträtiert": Hölderlins Brieftasche z.B., oder Beethovens Hörrohr. Die Besitzer dieser Objekte sind "Säulenheilige" der Kultur.
Aber rechtfertigt das, auch solche Alltagsgegenstände aufzubewahren? Warum werden diese Dinge ausgestellt? Es sind die Grundsatzfragen eines Museums: "Was bewahren, was zeigen und wie?" die diese Auswahl aus der Sammlung des Museums durchziehen.
Aber nicht nur aus dieser Sammlung: Denn seit kurzem "hütet" der Hamburger Bahnhof auch Kunstsammlung des Bundes, die bei dieser Gelegenheit mit vorgestellt wird. So steht gleich am Anfang dieser Sammlungspräsentation eine spektakuläre – auch einigermaßen plakative – Arbeit aus der Sammlung des Bundes: Ein halb in Schutt versunkenes "Ausstellungshaus" des Künstlerduos Elmgreen und Dragset. Man schaut auf eine Oberlichtdecke, an der Seite ist noch der Schriftzug "contemporary art" zu lesen. Das Ganze ist monumental, aber auch ein "Haus" im Haus, also verzwergt. Ein passender Gag – aus der Sammlung des Bundes.
"Keep Walking"
Man muss allerhand Strecke zurücklegen in den Rieckhallen. Der Titel "Keep Walking" für die Ausstellung des Afroamerikaners Mark Bradford im ersten Teil des Gebäudes erscheint also mehr als passend. Viele seiner Arbeiten verdanken sich Streifzügen des Künstlers durch seine Heimatstadt Los Angeles. Bradford ist Anfang 60 und nicht nur schwarz, sondern auch schwul - das heißt, er hat auch die AIDS-Pandemie überlebt. All diese Aspekt spielen eine Rolle in seinen Arbeiten. "Keep Walking" ist eine Art Retrospektive im Telegrammstil. Zu sehen sind Collage-Bilder, mit denen er sich zuerst einen Namen gemacht hat: Aus kommerziellen Postern, Kaufgesuchen von Immobilienhaien in Arme-Leute-Gegenden von Los Angeles, wo vor allem Schwarze leben. Der Künstler klebt sie partienweise übereinander, schleift Teile davon wieder ab, übermalt, klebt, schleift – so dass sich eine Art fiktionales Palimpsest ergibt: Etwas Neues aus Altem – wie die Papierchen, die er im Friseursalon seiner Mutter beim Dauerwellenlegen kennengelernt hat. Sie bilden die Basis für großformatige abstrakte Bilder.
Daneben sind auch Videos und Installationen zu sehen und am Ende erscheint das Werk dieses Künstlers weniger geprägt durch eine bestimmte Ästhetik, als vielmehr diese Herangehensweise: Abfallprodukte, die bezeichnend sind für den Alltag um ihn herum, umzumünzen in Kunstwerke - inzwischen teuer gehandelte Kunstwerke.
Mit dieser Präsentation des US-Amerikaners bietet sich in den Rieckhallen die Gelegenheit, einen Künstler kennenzulernen, der der buchstäblich verarbeitet, was er sieht und was seine Umgebung ausmacht.
Silke Hennig, rbbKultur