Drama - "Wilder Diamant"
Aus dem Stand gleich mit dem allerersten Film in den Wettbewerb von Cannes: dieses kleine Kunststück ist Agathe Riedinger mit ihrem Film "Wilder Diamant" gelungen, über den dann auch das amerikanische Branchenblatt "Variety" gleich in höchsten Tönen schwärmte. Bei uns feierte der Film auf dem Filmfest München Premiere und in Berlin auf der französischen Filmwoche. Am Donnerstag kommt er nun in unsere Kinos.
Liane, der wilde oder vielleicht auch rohe Diamant dieses Films: Auf den ersten Blick bietet sich vor allem Anlass, den Kopf zu schütteln, sich über ihre auf Äußerlichkeiten fixierte Art lustig zu machen. Völlig aufgetakelt stürmt sie in diesen Film: dick geschminkt, mit breiten Brauenbalken über den Augen, aufgespritzten Lippen, falschen Wimpern und Haar-Extensions, dazu Blingbling-Ohrgehänge, superlange Nagelkrallen und ultrahohe Stilettos, die noch mit Glitzersteinchen aus Plastik aufpimpt sind, dazu bauchfreie Tops und superkurze Röcke.
Alles an Liane ist übertrieben, zu viel, zu groß, zu kurz, zu penetrant. Doch statt sich über sie zu mokieren, zelebriert der Film sie als Rohdiamant - allein durch die große Zärtlichkeit mit der er sie zeigt: immer auf Augenhöhe, nie herablassend.
Die Reality TV-Casterin als gute Märchenfee
Lianes großes Ziel ist es, Influencerin mit möglichst vielen Followern zu werden. Unablässig feilt sie an ihrem Aussehen: mit Schminke und Klamotten, aber auch mit Operationen. Die Brüste hat sie schon machen lassen, demnächst soll der Po aufgepolstert werden - und alles wird haarklein im Netz verbreitet. Vor allem aber hat sie sich bei einer Reality TV-Show beworben, die bezeichnenderweise "Miracle Island" heißt. Der Casterin der Show gefällt ihre Videopräsentation, sie wird sie von der Produktionsfirma "StarShine", zur Audition eingeladen, präsentiert sich beim Casting. Das läuft auch ganz gut, aber danach hört sie lange Zeit gar nichts mehr von dieser Frau, versucht immer wieder vergeblich sie zu erreichen. Die Casterin ist in diesem Szenario die gute Märchenfee, die dem Aschenputtel mit ihrem Zauberstab Wünsche erfüllen kann.
Es ist beängstigend, in welchem Maße Liane alles auf diese eine, nicht sonderlich realistische Karte setzt, was weder ihre Mutter noch die Sachbearbeiterin auf dem Arbeitsamt für eine gute Idee halten - und selbst die Freundinnen in der Peergroup sind skeptisch. Auch als Zuschauer:in bangt man um Liane - ein Gefühl, das noch verstärkt wird, als diese einfach mal so raushaut, dass sie sich umbringen wird, sollte es mit der TV-Show nicht klappen ...
Influencer-Karriere als einzige Perspektive
In gewisser Weise ist "Wilder Diamant" eine Satire über Influencer-Exzesse - doch eine, die ihre Heldin wirklich ernst nimmt. In der öden französischen Provinz, ohne Vater, ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung, mit einer alleinerziehenden Mutter, die von Sozialhilfe lebt und mit der Verantwortung für sie und ihre sehr viel jüngere Schwester völlig überfordert ist, hat Liane im Grunde keine Zukunftsperspektive. Agathe Riedinger gelingt das Kunststück, eine Selbstoptimierung, die an Selbstverstümmelung, und eine Sexualisierung, die an Prostitution grenzt als gesellschaftlichen und medialen Missstand anzuprangern, gleichzeitig aber immer ganz nah an Liane dran zu sein: an ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft und an ihrer Angst vor dem endgültigen Abstieg.
In den sozialen oder doch eher unsozialen Medien bekommt Liane viel Zuspruch, sie wird als Star gefeiert, aber genauso auch als Schlampe beschimpft. All diese Kommentare erscheinen immer wieder bildfüllend auf der Leinwand. Doch selbst die Demütigungen saugt sie hungrig auf, denn in dieser Welt bedeutet auch ein Shitstorm Aufmerksamkeit. Selbst ihre engsten Freundinnen mokieren sich über sie, raten ihr, für ihr Geld im Supermarkt zu arbeiten: "Nicht lustig!", kontert Liane. "Ich werde die französische Kim Kardashian, pass mal auf!"
Schöne, schreckliche Welt scheinbarer Verheißungen
Agathe Riedinger hat Liane 2018 noch in anderer Besetzung bereits zur Heldin ihres Kurzfilms "Waiting for Jupiter" gemacht. Zu den vielen klugen Regieentscheidungen, die sie getroffen hat, gehört auch, dass die Welten der Reality TV-Shows nie direkt zu sehen sind, sondern immer nur als Spiegelung in den Gesichtern der jungen Frauen, in ihren Reaktionen auf diese schöne, schreckliche Welt scheinbarer Verheißungen, der wir alle ein kleines bisschen auf den Leim gehen. Immer wieder gibt es zarte Momente, so zart wie ein Vorhang der im Wind weht, Haare, die sich in der Sonne kringeln, Vögel die schwerelos duch die Luft gleiten und eine Musik, die die widersprüchlichen Stimmungen trägt.
Es war Agathe Riedinger essenziell wichtig, dass die Darstellerinnen dieses Milieu authentisch verkörpern. Bei aller Künstlichkeit wirkt das immer wieder sehr roh und unmittelbar. Mal schaut Malou Khebizi, die Liane spielt, frech und herausfordernd in die Welt, mal schlägt sie vor Wut um sich, dann wieder wirkt sie herzzerreißend verloren. Sie ist eine Kunstfrau und zugleich ganz und gar wahrhaftig, eine Kriegerin und zugleich verletzlich. Man bangt um sie und spürt doch: die lässt sich nichts gefallen. Letztlich kann man gar nicht anders, als ihren ungeheuren Elan zu bewundern.
Anke Sterneborg, radio3