Drama - "The Outrun"
Mit ihrem Film "Systemsprenger" landete Nora Fingscheidt einen Riesencoup. Es war ihr erster großer Spielfilm: der Erfolg der Geschichte um ein kleines Mädchen, das sich nicht einordnen kann und will, bekam eine Oscar-Nominierung und acht Lolas – seitdem steht für Nora Fingscheidt die Welt des Films offen. Nach "Unforgiven" mit Sandra Bullock kommt jetzt ihr zweiter englischsprachiger Film "The Outrun" mit Saoirse Ronan in die Kinos.
"Outrun" beschreibt den Findungsprozess einer Frau, die den Halt verloren hat, die – nicht nur durch das Trinken, auch durch ihre Biografie – sich nie wirklich zugehörig fühlt, die am Rand der Gesellschaft steht und in einen tiefen Abgrund schaut.
Eine junge Frau am Abgrund
Dieser Abgrund zieht sie an und stößt sie ab. Und niemand ist da, der sie schützen würde – vor den Erinnerungsfetzen an ihre Kindheit, die zerbrochene Ehe der Eltern, die Rauheit der Natur, der Sehnsucht nach Liebe. All das verschmilzt in ihren Delirien und auch auf dem Weg in den Entzug. Denn auf dem Höhepunkt ihrer Trinkexzesse, als sie vollkommen die Kontrolle verliert, beschließt sie mit dem Trinken aufzuhören.
Sie verlässt London und geht zurück auf die Orkney-Inseln am Rande Schottlands, wo sie aufgewachsen ist, wo sie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr war. Hier lebt sie bei ihrem bipolaren Vater auf der Farm, hilft ihm bei den Schafen, betreut ihn, wenn er wieder einen manischen Schub hat, besucht ihre Mutter, die sich mit Leib und Seele Gott verschrieben hat – hier versucht sie, wieder zu sich zu kommen. Lernt, ihre Sucht zu benennen.
Farben und Töne
Nora Fingscheidt ist keine Regisseurin, die die Konfrontation mit unangenehmen Situationen scheut und so tut auch dieser Film weh. Sie nutzt ganz unterschiedliche erzählerische Mittel, um die Verfassung Ronas begreiflich zu machen, arbeitet sehr bewusst mit Farben und Tönen. Die Londoner Nächte sind in warmes Licht getaucht, die wummernden Beats der Clubs sind wie ein trügerischer Schutzwall. Dann die Orkney-Inseln von wo aus Rona noch einmal weiter in den Norden, in die Einsamkeit ziehen wird: Hier ist zunächst alles eher kühl und blau, irgendwann aber ziehen dann auch warme Töne ein. Und der Lärm der Natur - die sich brechenden Wellen, die Stürme, die Vögel, das Blöken der Schafe – all das kann durchaus mithalten mit dem tönenden Soundtrack der Stadt. Hier liegt der Antagonismus des Films.
Und dann gibt es noch Ronas Innenleben, ihr Nachdenken als Naturwissenschaftlerin über die Welt. Das alles ist ganz schön viel: Nachdenken – Jetztzeit – Erinnerungen, da kann man leicht den Überblick verlieren. Orientierung bietet da eigentlich nur die Frisur von Saoirse Ronan: Je nachdem wie weit die blaue Färbung rausgewachsen ist, wissen wir ungefähr, wo wir uns befinden.
Ein herausfordernder Film
Die irische Schauspielerin hat den Film gemeinsam mit ihrem Mann, dem Schauspieler Jack Lowden, auch produziert – ist also mit ganzem Herzen dabei. So wie es der Regisseurin gelingt, den Geist des Buches einzufangen, macht sie die Gefühle einer Süchtigen nachvollziehbar: Sie spielt unglaublich facettenreich, eigenwillig, mutig. Ein Höhepunkt sicher, wenn sie zu den Seehunden ins eiskalte Meer steigt.
In all ihren Filmen - angefangen bei "Brooklyn" bis zu Greta Gerwigs "Little Women" - spielt Saoirse Ronan immer eher zurückhaltend und dabei sehr präsent. So bietet sie auch hier eine wirklich starke Performance. In einem Film, der aufwühlend und dann wieder sehr intellektuell und distanziert ist, der vielleicht zu viel will – in jedem Fall sehr herausfordernd ist.
Christine Deggau, radio3