Filmdrama - "Ein Schweigen"
Schwierige Kräfteverhältnisse in der Familie sind das große Thema des belgischen Regisseurs Joachim Lafosse, das gilt auch für sein neuestes Werk mit dem bezeichnenden Titel "Ein Schweigen". Wie schon in seinem Film "Unsere Kinder" hat er sich auch hier wieder von einem realen Fall inspirieren lassen: 2007 war Victor Hissel, der als Anwalt die Opferfamilien im Fall des belgischen Kinderschänders Marc Dutroux vertrat, wegen des Besitzes kinderpornografischen Materials angeklagt worden. Zwei Jahre später hatte Hissels Sohn versucht, seinen Vater umzubringen. "Ein Schweigen" lotet diese dramatische Familienkonstellation fiktiv aus.
Als Teenager hat Joachim Lafosse den Fall Dutroux wahrgenommen - und die Demonstrationen, in denen hunderttausende Menschen auf den Straßen Brüssels "Nie wieder" skandierten. Von dieser Zeit hat er das Gefühl mitgenommen, dass sich unter diesen Menschen einige maskierte Wölfe verbargen. Der Anwalt, der die Eltern der Opfer vertrat, wurde später selber von der Justiz verurteilt. Lafosse will die tragische Dimension dieser Zeitungsmeldung erforschen, dabei geht es ihm nicht um Schuldzuschreibungen, sondern darum, die Dynamiken, die in der Familie walten, zu hinterfragen, so ähnlich wie schon in "Unsere Kinder", wo es um eine Mutter ging, die ihre fünf Kinder umbrachte und im Garten verscharrte.
Jahrzehntelange Verdrängungs- und Vertuschungsversuche
Der Film beginnt in einem Auto, das sich durch den Pariser Verkehr bewegt. Astrid Schaar (Emmanuelle Devos) ist eine Frau in den mittleren Jahren, offensichtlich aufgewühlt ringt sie um Beherrschung. Es dauert eine Weile, bis man als Zuschauer die Ursache dieses Zustandes erfasst: Ihr Sohn ist auf seinen Vater losgegangen, hat ihn schwer verletzt und steht nun unter Mordanklage. Sofort wird spürbar, in welchem Maße jahrzehntelange Verdrängungs- und Vertuschungsversuche sich wie eine erstickende Decke über das Familienleben gelegt haben, zwischen die Eltern und ihre drei leiblichen Kinder und den jüngsten adoptierten Sohn.
An einem Telefongespräch zwischen der Ehefrau und Mutter Astrid und ihrem ältesten Sohn Pierre lassen sich lange schwelende Vorwürfe ablesen: "Ist dir eigentlich bewusst, dass ich seit zehn Jahren Angst habe, euch auf der Straße zu begegnen?", sagt Pierre. "Dass ich Restaurants meide, weil ich befürchte, euch da treffen zu können? Dass ich jedes Mal einen Knoten im Magen habe, wenn ich ihn im Fernsehen sehe?" "Stimmt es, dass du ihn anzeigen willst?", fragt die Mutter erschüttert. "Das ist doch schon so lange her!", wirft sie ein. "Wovor hast du Angst?", kontert der Sohn. "Willst du nicht, dass es bekannt wird? Hast du Angst, deinen Komfort zu verlieren?"
Ermittlungsinteresse oder persönliche Vorlieben?
Was wirklich passiert ist, wird in diesem Gespräch nie gezeigt oder auch nur benannt - es bleibt die Leerstelle, die Lafosse systematisch einkreist und durchdringt, dieser ganze Morast aus Verdrängung, Vertuschung und falscher Loyalität. Äußerlich scheinen diese Lügen die Familie zusammenalten, doch innerlich haben sie sie über die Jahre zersetzt. Einem Dampfdrucktopf gleich droht sie zu explodieren. Der angesehene Anwalt verschafft in Missbrauchsprozessen den Familien der Opfer Gerechtigkeit, ist immer wieder als rettender Engel im Fernsehen zu sehen und zu hören, doch plötzlich gerät er selber immer stärker unter Druck, wie ein Wolf im Schafspelz.
Immer offensichtlicher wird, in welchem Maße sich die Mutter Astrid selbst belügt, immer vehementer mauert, je größer der Druck wird, auch von ihren eigenen Kindern: "Mama, du musst mit ihm sprechen", fordert die erwachsene Tochter Caroline. "Wann wirst du endlich etwas tun?" "Seid ihr jetzt alle völlig verrückt geworden?", kontert die Mutter. "Dein Vater hat alles getan, sich entschuldigt, eine Therapie gemacht, alles versucht, um es wieder gut zu machen. Wieso ausgerechnet jetzt?"
Seit sechs Monaten ermittelt die Polizei. 700 Suchanfragen zu Kindsmissbrauch. Sind die wirklich nur dem Ermittlungsinteresse geschuldet?
Kein leichtes Spiel für die Darsteller
Keine leichte Aufgabe für Daniel Auteuil und Emmanuelle Devos, die hier genauso zurückhaltend und fein dosiert spielen, wie Joachim Lafosse den Film inszeniert. Ganz unaufdringlich und diskret hält Auteuil sein Spiel in der Schwebe, wirkt immer wieder so anständig, dass man die Vorwürfe auch für eine journalistische Hetzjagd halten könnte. Es ist eine ungewöhnliche und mutige Rolle für Daniel Auteuil, der in der Regel grundsympathisch und distinguiert wirkt. Emmanuelle Devos ist in fast jeder Szene zu sehen, doch sie ist auch eine unzuverlässige Erzählerin, weil sie sich seit 30 Jahren selber belügt, um den bourgeoisen Schein zu wahren. Ein bisschen erinnert das bisweilen an Chabrol, der das Verhalten der Bourgeoisie mit großem Vergnügen entlarvt hat, doch Lafosse geht es weniger darum anzuprangern: er will verstehen.
Auch ein #MeToo-Film
Seit 2017 der Skandal um den Filmproduzenten Harvey Weinstein öffentlich wurde, ist auch das strukturelle Wegschauen in Fällen von Machtmissbrauch in den Fokus gesellschaftlicher Debatten gerückt. In diesem Sinne ist "Ein Schweigen" auch ein #MeToo-Film, der einen sehr aktuellen Nerv trifft, zumal es gerade in Frankreich eine ganze Reihe von Missbrauchsvorwürfen gegen prominente Männer aus Kultur und Politik gab.
Dass der Film ausdrücklich nicht Stellung bezieht und damit manchmal auch ein bisschen zu vage bleibt, den Finger nicht wirklich auf die Wunde legen will, könnte man ihm auch als Schwäche auslegen. Andererseits kann es in einem so komplizierten Gefüge auch nicht um einfache Schuldzuweisungen gehen.
Anke Sterneborg, radio3