Roman | Buchempfehlung für den Sommer - Helmut Krausser: "Freundschaft und Vergeltung"
Der 1964 in Esslingen geborene Helmut Krausser ist ein Multitalent. Er schreibt Romane und Erzählungen, Theaterstücke und Drehbücher, Gedichte und Hörspiele, komponiert Musik und verfasst Opern-Libretti. Mit "Der große Bagarozy", "Melodien oder Nachträge zum quecksilbernen Zeitalter", "Trennungen. Verbrennungen", "Für die Ewigkeit", "Wann das mit Jeanne begann" erreichte er stets ein treues Publikum. Am 11. Juli feiert der inzwischen in Berlin und Rom lebende Autor seinen 60. Geburtstag und beschenkt sich und seine Leserinnen und Leser mit einem neuen Roman.
Es ist die schwierige Freundschaft, oder besser: die unerwiderte Liebe, totale Hingabe und unterwürfige Verehrung eines 17-jährigen College-Jungen gegenüber seinem ein Jahr älteren Mitschüler. Dass diese von Wutausbrüchen und Vertrautheit begleitete Freundschaft so abrupt endete wie sie begann und niemals richtig ausgelebt werden konnte, hat dem Erzähler zeitlebens keine Ruhe gelassen, seine spätere Ehe belastet, ihn zermürbt und zerrüttet.
Der Erzähler heißt Anthony Brewer, er ist Rechtsanwalt. Nachdem er 2015 in den Ruhestand gegangen ist, findet er endlich Zeit, sich an die Lösung des von vielen Rätseln und vielleicht auch einigen Todesfällen verdunkelten Geheimnisses zu machen, das bin in die Jahreswende 1965/66 zurückreicht. Die Freundschaft zwischen Anthony Brewer und Chris Bradshaw, so hieß sein Mitschüler am abgelegenen College in Raven-Hall, fällt nicht nur zusammen mit dem Aufbruch einer rebellischen Generation in eine neue, von Drogen und Pop-Musik begleitete antiautoritäre Zeit, sie wird auch Teil eines ungelösten Mysteriums: dem spurlosen Verschwinden von vier Personen, die vielleicht ermordet wurden, vielleicht aber irgendwo auf der Welt ein neues, anderes Leben begonnen und Abenteuer erlebt haben könnten, von denen der Erzähler immer nur geträumt hat.
Ein ungelöstes Mysterium am entlegenen englischen College
Chris Bradshaw war ein Mephisto, ein echter Mistkerl und Teufelsbraten. Rücksichtslos auf seinen Vorteil bedacht hat er sich am Unglück seiner Mitmenschen geweidet. Lehrer und Schüler spielte er gegeneinander aus. Mit erfundenen Affären hat er geprahlt und seine reichen Eltern verhöhnt. Auf Konventionen hat er gepfiffen und eine Lunte ans autoritäre Bildungssystem gelegt. Aber er war auch ein frühreifes Genie. Konnte ganze Passagen von Shakespeare auswendig, war ein Akrobat der Worte, ein lyrischer Zauberer, brachte sich selbst das Gitarrenspiel bei und komponierte politisch aufrüttelnde und erotisch anzügliche Lieder, die es mit den damals angesagten Hits von Beatles und Stones, Kinks und The Who aufnehmen konnten.
Nachdem er von mehreren Schulen geflogen war, landet Chris im Herbst 1965 am altehrwürdigen Zöglings-Internat von Raven-Hall, einem ehemals prächtigen Schloss im Süden Englands, das längst zu einer Bruchbude heruntergekommen ist und nur mithilfe der großzügige Spende von Vater Bradshaw überleben kann, der mit seinem üppigen Geldgeschenk den Mantel des Schweigens über seinen unehelichen Fehltritt mit einer der Lehrerinnen von Raven-Hall breiten will.
Diese Lehrerin, Deborah Rodgers, verschwindet zum Jahreswechsel 1965/66 genauso spurlos wie Chris Bradshaw. Kurz vorher waren bereits nach der Silvesterfeier die Leiterin des Internats sowie Mr. Bradshaw, der im Institut nach dem rechten sehen und seinem Sohn Weihnachtsgeschenke überreichen wollte, der Welt spurlos abhanden gekommen.
Was sich damals im winterlich verschneiten College abspielte, blieb viele Jahre ein Rätsel und Mysterium - und wird es vielleicht für immer bleiben.
Ein irrlichternder Roman, den man unbedingt lesen sollte
Helmut Krausser alias Anthony Brewer zieht alle Register der Verwirrung, spielt mit den Erwartungen und Vorurteilen des Publikums, überreicht uns eine literarische Wundertüte. Als Anthony will er angeblich den Cold Case wieder aufwärmen und lösen, aber eigentlich will über den Sinn und Unsinn des Lebens nachdenken und in die Abgründe verdrängter Begierde und verlorener Utopien eintauchen.
So viel er auch recherchiert und sich in der digitalen Welt verliert: Er rennt immer wieder gegen Mauern des Schweigens und Vergessens, der gezielten Lüge und trüben Erinnerung. Die Ermittlungen werden für Anthony, der seiner unerwiderten Liebe zum rebellischen Chris und zur unerreichbaren Deborah nachtrauert und nun die Leere des Alters und die Angst vorm Tod überwinden will, zur selbstzerstörerischen Obsession. Er schreibt Artikel, gründet einen Internet-Blog, reist jeder vagen Spur hinterher, befragt Zeitzeugen, zitiert aus den alten Polizeiakten, entwirft ein literarisches Puzzle aus Fakten und Fiktionen, immer neuen Wendungen und Variationen.
Es gibt viele Indizien und versteckte Hinweise: Was aber damals wirklich geschah, ob Schüler Chris und Lehrerin Deborah ein Paar waren und zusammen das Weite suchten, ob die verknöcherte Institutsleiterin und der biedere alte Bradshaw ermordet wurden und tief vergraben im Wald von Raven-Hall liegen, ob vielleicht alle vier gemeinsame Sache gemacht und irgendwo ein neues Leben begonnen haben: das müssen sich die Leser selbst zusammenreimen. Alles ist möglich in diesem irrlichternden Roman über wilde Rebellion, verlorene Zeit, grenzenlose Fantasie und verblendete Liebe. Ein verrücktes Abenteuer. Ein Buch, das man unbedingt lesen sollte.
Helmut Krausser - ein Writer's Writer mit treuer Fangemeinde
Helmut Krausser hat sehr viele Bücher veröffentlicht, aber nie den ganz großen Durchbruch geschafft. Vielleicht ist er ein "Writer's Writer", der von Kollegen und Kritik geschätzt wird wegen seiner literarischen Raffinesse und komplexen Art zu erzählen. Jedes Buch ist ein neuer Anfang und bewegt sich auf unbekanntem Terrain. Das mögen viele Leser nicht so gern, auch die Verlage haben Probleme mit einem Autor, dessen Verkaufswert schwer zu taxieren ist. Krausser hat oft gewechselt, bei List und Luchterhand, Rowohlt und Dumont veröffentlicht, bevor er zum Berlin Verlag kam. Aber wahrscheinlich ist es ihm völlig schnuppe, wo seine Bücher erscheinen - Hauptsache, er kann sie schreiben und seiner treuen Fangemeinde regelmäßig neuen Lesestoff schenken. Wie jetzt wieder zu seinem 60. Geburtstag. Gratulation!
Frank Dietschreit, radio3