Berlinale | Wettbewerb - "Girls on Wire"
Was ist wichtiger - familiäre Bande oder persönliche Freiheit? In Vivian Qus Familiendrama "Girls on Wire" muss sich eine junge Frau entscheiden, ob sie ihrer in Not geratenen Cousine hilft, aus den Fängen der Drogenmafia zu entkommen. Das ist spannend erzählt, lässt aber die inhaltliche Tiefe vermissen.
Zwei junge Frauen stehen im Zentrum von Vivian Qus Drama "Girls on Wire": Tian Tian (Liu Haocun) und ihr ältere Kusine Fang Di (Wen Qi) sind einst wie Schwestern aufgewachsen, wurden dann durch familiäre Probleme auseinandergerissen und finden nun, Jahre später, unter dramatischen Umständen wieder zusammen.
Wiedersehen mit der Schwester
Weil Tian Tians drogensüchtiger Vater (Zhou You) seine Schulden nicht mehr bezahlen kann, nimmt die Mafia sie als Geisel. Zwar gelingt ihr es ihr, zu entkommen. Dabei tötet sie jedoch ihren Bewacher und ist nun auf der Flucht. In ihrer Not wendet sich Tian Tian an Fang Di, die mittlerweile als Stuntfrau in einem Filmstudio arbeitet. Di ist zunächst nicht allzu erfreut über das Wiedersehen mit der "Schwester" von einst, entschließt sich dann aber doch, Tian Tian zu helfen. Schließlich sind die Mafiosi der jungen Frau bereits auf der Spur – und die verstehen keinen Spaß.
Blut ist dicker als Wasser
"Blut ist dicker als Wasser" – dieses Sprichwort gilt auch im China von heute. Obwohl sich familiäre Bande immer mehr auflösen und die Gesellschaft fragmentiert, kann sich Fang Di der Verantwortung für ihre Cousine nicht entziehen. Wie sich die beiden Frauen allmählich wieder annähern, wie aus Misstrauen Zärtlichkeit und am Ende Liebe wird, das wird von Wen Qi und Liu Haocun überzeugend gespielt.
Frage nach der Relevanz
Doch je länger die Geschichte dauert und je mehr Details uns der Film über die Vorgeschichte der beiden Frauen offenbart, desto mehr stellt sich die Frage nach der Relevanz. Hier noch eine Rückblende, da noch ein biografisches Detail – bald sind anderthalb Stunden vergangen und die Spannungskurve weitestgehend abgeflacht. Immerhin, das Eintreffen der Mafiosi im Filmstudio und ihr unfreiwilliger Einsatz als Statisten birgt noch einmal etwas "comic relief", irgendwann aber ist die Geschichte der beiden Frauen auserzählt und der Film noch immer nicht am Ende.
Die Spannungskurve flacht ab
In der Vergangenheit zählten die chinesischen Filme auf der Berlinale oft zu Highlights des Wettbewerbs, weil sie in ihrer Bedeutung und ihrer Aussage weit über den Inhalt hinausragten – man denke nur an Wang Xiaoshuais episches Familiendrama "So long, my son" (2019) über die tragischen Folgen der Einkind-Politik oder an die epochale Romanverfilmung "Rotes Kornfeld", für die Zhang Yimou 1988 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. "Girls on Wire" ist die dagegen nur ein solide erzähltes Familiendrama über zwei ungleiche Frauen, die vom Schicksal aneinandergeschweißt werden. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.
Carsten Beyer, radio3