Philharmonie Berlin | Kammermusiksaal - Musikfest Berlin: Klavierabend mit Pierre-Laurent Aimard
Der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard ist einer der seit langem wichtigsten Pianisten für die Musik der Moderne, und beim Musikfest Berlin war er mit einem Klavierabend zu erleben, der zwei große Komponisten-Jubiläen zum jeweils 150. Geburtstag berücksichtigte: Arnold Schönberg und Charles Ives.
Pierre-Laurent Aimard ist ein universeller Musiker, der zwei Dinge zusammenbringt: eine geradezu olympische Technik und einen Ausdruck, der von zartester Poesie bis zum donnernden Orkan alles zur Verfügung hat.
Besonders in Werken der Moderne stehen ihm unbegrenzte Klangfarben zur Verfügung. Wo sein Mozart-Spiel merkwürdig trocken erscheint, gilt: je zeitgenössischer desto vielschichtiger, da sind dann Kopf und Herz im Einklang.
Schönbergs Experimentierlabor
Das Klavierwerk von Arnold Schönberg dauert zusammengenommen gerade einmal eine knappe Stunde, aber diese Werke sind für die Moderne von großer Bedeutung. Das ist der Weg, endgültig weg von der Tonalität, und später zur Zwölftontechnik, exemplarisch und absolut auf den Punkt.
Das ist so etwas wie Schönbergs Experimentierlabor, gewissermaßen der Zaubertrank der Moderne, von der Harmonik radikal neu, aber vom Gestus eigentlich noch ganz der Spätromantik verhaftet mit extremen Gefühlsaufwallungen auf engstem Raum. Faszinierend janusköpfig.
Ein Bogen – eine Welt
Pierre-Laurent Aimard fasst alle fünf Veröffentlichungen Schönbergs unter einen Bogen – bitte keinen Beifall zwischendurch, sondern erst am Ende, aber das macht Sinn. Vor allem hat er die Emotionalität dieser Musik gepackt – wärmste Melodik und gleißendste Blitzeinschläge, da wurde gewissermaßen um jeden Ton gerungen. Aimard hat alles hineingelegt, sogar so intensiv, dass er bei den ausdrucksintensivsten Stellen mitgeschnauft hat, dass man sich an einen schnarchenden Bären erinnert gefühlt hat.
Der Pianist zelebriert exquisitesten Anschlag. Dazu kommt ein wunderbarer Witz auf höchstem Niveau. Das ist augenzwinkernd in Schönbergs Suite op. 25, wo die barocken Tanzmuster köstlich hüpfen und stolpern. Aimard hat eine Freude daran, das comicartig zu mickeymausisieren und die Strukturen zu sezieren. Ein einziges Vergnügen.
50 Minuten Höchstschwierigkeiten
Selten hat eine Klaviersonate einen so verrückten Titel erhalten wie die Zweite von Charles Ives: "Concord Mass., 1840-1860". Der Titel erklärt sich daraus, dass in diesen Jahren einige der wichtigsten amerikanischen Tanszendentalisten, darunter Emerson und Thoreau, in Concord gelebt haben. Das ist aber nur der gedankliche Hintergrund für eines der monumentalsten, gigantischsten und rätselhaftesten Werke des frühen 20. Jahrhunderts.
Ives mischt komplexeste Verdichtung und einfachste Liedmelodien zusammen, das Schicksalsmotiv aus Beethovens Fünfter zieht sich durch alles durch, man kann es kaum überhören. Das sind fünfzig Minuten Höchstschwierigkeiten, es bewegt sich an der Grenze der Spielbarkeit. Und im zweiten Satz ("Hawthorne"!) benötigt man sogar eine kleine Holzlatte, um alle nötigen Tasten herunterdrücken zu können.
Blick in die Ferne
Sicher ist das für alle, die sich darantrauen, eine Herausforderung. Bei Pierre-Laurent Aimard war davon allerdings nichts zu spüren. In den komplexen Stellen entfacht er eine Wucht, dass da keine Katze, sondern eine ganze Tigerhorde über die Tasten zu springen scheint.
Aber viel mehr als das: Man bekommt das Gefühl von Weite, man scheint nicht mehr in einem geschlossenen Konzertsaal zu sitzen, sondern unter freiem Himmel und kilometerweit in die Ferne zu blicken. Die liedhaften Momente sind voller Poesie, das rückt nahe an einen heran. Aimard ist ein Erzählkünstler allererster Güte, das Komplizierteste erscheint plötzlich ganz einfach und verständlich.
Spitzenmusiker
Als Pierre-Laurent Aimard vor sieben Jahren den Ernst von Siemens Musikpreis erhalten hat, hat das niemanden überrascht. Es war angemessen und verdient. Warum, das hat er auch diesmal wieder unter Beweis gestellt. So gut hat man Schönberg und Ives lange nicht mehr gehört. Schade, wer das versäumt hat.
Andreas Göbel, radio3