Philharmonie Berlin - Musikfest Berlin 2024: Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst
Als "Big Five" bezeichnet man die fünf bedeutendsten Sinfonieorchester der USA. Sie kommen aus New York, Boston, Chicago, Philadelphia – und aus Cleveland. Und das Cleveland Orchestra war gestern Abend beim Musikfest Berlin in der Philharmonie zu Gast unter Franz Welser-Möst, der dort seit über 20 Jahren und noch bis 2027 Chefdirigent ist.
Hauptwerk des Abends war die selten gespielte zweite Sinfonie von Sergej Prokofjew. Das ist ein provozierendes Werk mit härtesten Klängen und massivster Beschallung, teilweise trommelfellzerfetzend. Aber es gibt auch ruhigere Stellen mit einer gewissen Süffigkeit.
Das Cleveland Orchestra hat alle Möglichkeiten, das überzeugend umzusetzen. Den Breitwandsound können sie, aber auch eine Exquisitheit mit Samtüberzug. Das sind gute Bausteine – allerdings fehlte die für Prokofjew so typische Ironie. Hier: kein Sarkasmus, stattdessen bitterernst durchgespielt. Da hätte man sich so manche Stellen weniger mit breitem Pinsel, sondern sehr viel raffinierter gewünscht. Die Qualität stimmte, aber das klang doch nach zu viel Routine.
Politische Frage in Musik
Die US-Amerikanerin Allison Loggins-Hull, derzeit Composer in Residence beim Cleveland Orchestra, stellt in ihren Werken oft politische Themen und Fragen in den Mittelpunkt. So auch bei "Can You See", das als Deutsche Erstaufführung in der Philharmonie zu hören war. Mit diesen Worten beginnt der Text der amerikanischen Nationalhymne, und wenn dort dann vom Land der Freien und Tapferen die Rede ist, stellt Loggins-Hull die Frage, ob das in der Realität auch so eingelöst wird oder ob es da nicht Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt.
In ihrer Musik erwachsen aus sphärenartigen Klängen langsam Verdichtungen und Melodiefragmente, aber immer wieder unterbrochen durch harte Schläge im Schlagzeug. Klare Setzung also am Beginn, wenn Versuche von Harmonie durch die harte Realität immer wieder brutal infrage gestellt werden, so jedenfalls kann man das deuten. Die Komponistin kann den Orchesterapparat gut bedienen, erweitert den Klangraum durch Überblendungen, Triller und Glissandi. Das ist in den knapp zehn Minuten hörenswert erdacht und empfunden. Wenn am Ende dann jedoch nur Wohlklang übrigbleibt – soll das sagen, dass alles in Ordnung wäre?! Bei einem Werk mit einer solchen politischen Fragestellung verwundert das dann doch.
Dystopie mit Ansage
Bekannt und häufig gespielt ist auch hierzulande längst John Adams, selten jedoch sein Orchesterstück "Guide to Strange Places". Ausgangspunkt für Adams war wohl ein französischer Reiseführer durch die Provence, wo es aber eher um skurrile Dinge wie Geistergeschichten oder Mordfälle geht. Das hat er zum Vorwand genommen, um seine vertrauten minimalistischen Strukturen immer weiter in eine Dystopie kippen zu lassen.
Das ist am Beginn zunächst halbwegs freundlich bewegt, aber dann scheint einiges nicht zu stimmen. Das tiefe Blech klingt gefährlich wie ein schnaufendes Rhinozeros – bis das Geschehen am Ende ganz zerklüftet ist, immer wieder durch brutale Akkordschläge unterbrochen wird und man beim Hören in den Sessel gedrückt wird. Das hat phasenweise eine beklemmende Wucht – wenngleich es an anderen Stellen ziemlich beliebig durchhängt. Nicht das stärkste Stück des Komponisten.
Zu viel Routine
Natürlich – das hat man wieder einmal sofort gemerkt – hat man es beim Cleveland Orchestra mit einem Spitzenklasseensemble zu tun. Brillanz, Virtuosität und Klangästhetik vom Feinsten, das hört man, und in den besten Momenten scheint es vom Boden abzuheben. Dennoch gibt es beim jüngsten Auftritt im der Philharmonie Einwände:
So gut es ist, Werke präsentiert zu bekommen, die man eher selten hört, so sehr hätte man sich stärkere Beispiele gewünscht. Und trotz aller Qualität hätte die Detailzeichnung differenzierter ausfallen können – da wurde zu sehr auf Routine gesetzt. Schließlich muss sich das Orchester bei einem Programm von nur gut anderthalb Stunden inklusive Pause fragen lassen: Wenn das Publikum lang anhaltenden Beifall spendet, dazu Jubel und Bravorufe – warum gab es nicht, wie sonst bei Gastorchestern üblich – wenigstens eine kurze Zugabe? Das war gegenüber dem Publikum eine ziemliche Respektlosigkeit.
Andreas Göbel, radio3