Zadie Smith: Betrug; Montage: rbbKultur
Kiepenheuer & Witsch
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Roman - Zadie Smith: "Betrug"

Zadie Smith, die britische Autorin mit jamaikanischen Wurzeln, hat mit ihrem Erstling "Zähne zeigen" einst die Bestsellerlisten gestürmt, die Kritik überzeugt und für ihre Werke seither viele Preise erhalten. Nun hat sie ihren ersten historischen Roman veröffentlicht: London im viktorianischen Zeitalter, Jamaika während des Kolonialismus. Der alternde, mit Charles Dickens befreundete Vielschreiber William Ainsworth, den es wirklich gab. Ein spektakulärer, ebenfalls historischer Gerichtsfall. Das sind einige Zutaten in "Betrug", dem neuen Roman von Zadie Smith. Arno Orzessek hat ihn gelesen.

Am Anfang: ein kapitales Loch. Und zwar im zweiten Stockwerk des Hauses Ainsworth. Man kann das Loch symbolisch nehmen: Etwas ist faul im Staate ... im viktorianischen Großbritannien. Und im Haus des ehemaligen Erfolgsschriftstellers William Ainsworth, der wirklich gelebt hat, sowieso. Ainsworth ist längst in prägeriatrischem Kitsch ertrunken, hält sich aber immer noch für großartig.

Nicht so seine Haushälterin Mrs. Eliza Touchet. Sie liest gar nicht mehr, was er ihr immer wieder vorsetzt. Sie ist keine gebildete Intellektuelle, aber ihr Blick ist scharf, genauso ihr Verstand und ihre Zunge. Sie sieht Ainsworths pompöses Versagen, sie durchschaut den Snobismus der Literatur-Zirkel und den aufgeblasenen Charles Dickens. Sie blickt ungeschönt auf ihr eigenes Leben und erst recht auf den Jahrmarkt der gesellschaftlichen Eitelkeiten.

Im Haus Ainsworth wird viel geredet, vor allem darüber, was in der Zeitung steht. Und dort steht gerade viel über den Tichborne-Fall, eine ellenlange Gerichtsfarce, die damals das halbe Land umtrieb. Die Sache ist so aufregend, dass Touchet und Sarah, Ainsworth' sehr junge aktuelle Frau, zu den Verhandlungen ins Zentrum Londons fahren – mitten hinein in die Zeitgeschichte.

Eine krasse Nummer

Roger Charles Tichborne war der schlanke, gebildete, französisch sprechende Sohn einer adeligen Familie und verscholl in den 1850ern auf einer Seereise nach Jamaika. Seine Mutter jedoch wollte von seinem Tod nichts wissen, sie schaltete Anzeigen – und 1865 meldete sich aus Waga Waga in South New Wales, Australien, ein auffällig verfetteter Metzger (es gibt nachteilige Fotografien von ihm), behauptete, der verschollene Roger zu sein und spekulierte aufs Erbe.

Die verzweifelte Mutter glaubte ihm, wollte ihm wohl glauben. Er kannte – so schildert es Smith, teils abweichend von den gesicherten Fakten – persönliche Details vom echten Roger, die irgendein beliebiger Metzger nicht kennen konnte. Und er hatte einen Zeugen, den ehemaligen Sklaven Andrew Bogle aus Jamaika. Andererseits fehlte ihm nahezu alles, um wirklich der verschollene Roger zu sein, nicht zuletzt wenigstens rudimentäre Kenntnisse des Französischen. Ihm wurde ein spektakulärer Prozess gemacht, den Smith nun mit den Augen Elizas und Sarahs verfolgt – ein Lehrstück in Populismus.

Der echte Metzger hatte viele Fans unter den einfachen Briten, die ihm seine Story vielleicht gar nicht glaubten, aber toll fanden, dass er so eine krasse Nummer gegen die Reichen durchzuziehen versucht. Smith zeigt, wie noch das Hanebüchene gefeiert und verteidigt wird. Auch die Trumps unserer Tage verlassen sich bekanntlich darauf.

Ein Buch im Buch

Als Eliza Touchet in London Kontakt zu Andrew Bogle sucht und sich seine Lebensgeschichte erzählen lässt, beginnt praktisch ein Buch im Buch. Nun sind wir auf Jamaika, unter den schwarzen Sklaven ... Wie sie lebten und liebten und vor allem: Wie sie litten, oft ausgebeutet bis zum Tod von zynischen Zuckerrohr-Kapitalisten.

Für Bogles abenteuerliche Lebensgeschichte wählt Smith, die ansonsten viele Ereignisse indirekt durch Gespräche präsentiert, den klassischen Erzählton im Indikativ Präteritum. Das Rätsel um den Metzger und Pseudo-Tichborne wird derweil immer größer: Warum legt der stille, gefasste, stets würdig auftretende Bogle, der irgendwann durch Begabung und Kontakte der Sklaverei entkommen war, in London ein falsches Zeugnis für den fetten Erbschafts-Jäger ab?

Viktorianische Epoche, Themen der Gegenwart

Nein, "Betrug" ist kein postkolonial-aktivistischer Roman – worauf Smith in Interviews viel Wert legt. Sie sortiert ihre Figuren nicht nach der Maxime "die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen". Sklaverei ist Sklaverei und galt schon damals vielen als Verbrechen, klar. Eliza ist auch entschiedene Abolitionistin. Aber die Figuren sind komplex. Die ZEIT glaubt, in dem Ego-Tripper Ainsworth einen Vorläufer des alten weißen Mannes unserer Tage zu sehen. Das mag sein. Aber zugleich begreift Eliza, dass Ainsworth für sie der einzige wirklich vertraute Mensch ist – den sie vielleicht sogar liebt. Sind alte weiße Männer also liebenswert?

Die englische Oberschicht wird als eitel, geldgeil und oberflächlich entblößt, doch die kleinen Leute kommen kaum besser weg. Sie sind es ja, die im Tichborne-Fall auf irrationalen Populismus abfahren. In Eliza zeigt Zadie Smith eine Frau, die von der beginnenden Emanzipation noch nicht viel hat – und das traurig begreift. Zugleich wird in den feministischen Kreisen ihrer Zeit genauso wie in den kommunistischen Kreisen viel Unfug verzapft.

"Betrug" taucht gründlich ein in die viktorianische Epoche, verhandelt dabei zugleich Hauptthemen der Gegenwart in Gestalt ihrer historischen Vorläufer und erfüllt so ein wesentliches Kriterium gehobener Literatur: Das Buch gibt zu denken und erspart sich durchsichtige Propaganda. Ein bisschen Schicksal und Schnurre ist auch eingewoben. Das macht aber nichts.

Smith' neuer Roman hat Tiefe und Gewicht und macht oft trotzdem richtig Spaß. Eine starke Kombination.

Arno Orzessek, rbbKultur