Michael Köhlmeier: Das Schöne © Hanser Verlag
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59 Begeisterungen - Michael Köhlmeier: "Das Schöne"

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Eine Verführung zum Lesen, Hören und Offen-in-die-Welt-Schauen: Michael Köhlmeier lädt ein zu einer ganz persönlichen Reise, von Tolstoi über Mozart bis zu Batmans Joker. Zu wem spricht Kunst? Hat Shakespeare das Menschliche erfunden – oder gar den Menschen? Hat Bob Dylan die schönste Ausformung antiker Lyrik geschaffen? Was ist überhaupt das Schöne? Michael Köhlmeier flaniert durch die Welt – und verbindet sein Staunen mit den großen und kleinen Fragen der Gegenwart.

Begeisterung ist laut Duden ein "Zustand freudiger Erregung" oder "leidenschaftlichen Eifers". Begeisterung wird getragen von enthusiastischer Anteilnahme und äußert sich gerne in "freudig erregter Zustimmung". Begeisterte Menschen sind also durchaus etwas Schönes, können aber, wenn der Eifer allzu ungezügelt hervorbricht, auch ziemliche Nervensägen sein. Letzteres muss man bei Michael Köhlmeier nicht befürchten. Seine 59 Begeisterungen sind so verführerisch, dass man anschließend viel zu tun hat, all das nachzulesen oder zu hören, was Gegenstand seiner klugen Schwärmereien werden durfte.

Begeisterung für Homer, Shakespeare, Kaftka, Dylan und Mozart

Vor allem sind das Begeisterungen eines Lesers. Wenig verwunderlich, dass der Mythen- und Märchenerzähler Köhlmeier sich von Homers Odyssee und von den Märchen der Brüder Grimm und immer wieder und über allem von Shakespeare begeistern lässt. Anna Karenina hat es ihm ebenso angetan wie die Erzählungen von Kafka, Becketts "Warten auf Godot", die Romane von Philipp Roth, Richard Ford oder Joseph Conrad. Doch es geht auch um den Struwwelpeter, um Wilhelm Busch, um Robinson Crusoe und Huckleberry Finn, Agatha Christie und Johannes Mario Simmel. Und um den Blues, um den Unterarm von Keith Richard, Bob Dylans Tambourine Man oder Mozarts Synphonie Nummer 40 in g-Moll.

Das Hehre ebenso wie das Triviale, die Hochkultur ebenso wie die Populärkultur und manchmal auch bloß das ganz Alltägliche wie YouTube-Videos, in denen Menschen zeigen, wie Dinge zu reparieren sind und ihnen damit ihre Würde zurückgeben, können Köhlmeier in Begeisterung versetzen.

Dabei fragt er immer über den konkreten Gegenstand seiner Zuwendung hinaus. Mozarts Musik macht ihn stolz darauf, ein Mensch zu sein und einer Gattung anzugehören, die so etwas hervorzubringen mag. Das ist die erste, die einfachste Antwort darauf, warum es Kultur und Kunst braucht. Der Mensch ist ja nicht nur das Wesen, das die Erde zugrunde richtet und schreckliche Kriege führt, sondern das eben auch das Schöne zu erkennen und zu erfinden vermag.

Was ist eigentlich "das Schöne"?

Immer wieder taucht in den 59 Begeisterungen die Frage auf, was das Schöne eigentlich ist. Sie ist das Unteilbare, heißt es an einer Stelle, der "Blitz in der Nacht", das Augenblickshafte, das zu schnell wieder verschwindet, um es analysieren zu können. Sie ist aber auch das Überraschende, Unerwartete, wie Lautréamont es formulierte: "das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch".

Mit seinen Begeisterungen schließt Köhlmeier an die "philosophisch-mythologischen Verführungen" an, die zusammen mit dem Philosophen Konrad Paul Liessmann entstanden sind. Dort fungierte Köhlmeier als Erzähler, Liessman als Interpret der jeweiligen Geschichten. Nun ist Köhlmeier beides zugleich, doch Nacherzählung und Deutung sind bei ihm kaum zu trennen.

Zur Begeisterungsfähigkeit gehört darüber hinaus auch die Gabe, davon zu berichten, was ein Buch oder eine Musik in ihm auslösten. Begeisterung ist, wenn sie so ansteckend wirkt wie bei Köhlmeier, ein Erfahrungsbericht. Der Gegenstand, um den es geht, fungiert nicht einfach bloß als Objekt der Erkenntnis, sondern ist Teil eines lebendigen Geschehens.

Abwatschung aktueller Verwirrungen

Nebenbei watscht Köhlmeier aktuelle Verirrungen wie die Moral der "kulturellen Aneignung" oder eine Rezeption, der die Herkunft und Identität eines Schriftstellers, einer Schriftstellerin wichtiger ist als deren künstlerischen Fähigkeiten. So verteidigt er elegant den derzeit in Misskredit geratenen weißen alten Mann, wenn er sich dafür einsetzt, auch als solcher Gedichte der jungen schwarzen Lyrikerin Amanda Gorman übersetzen zu können. Sonst müsste man ja auch ein Engländer aus dem 16. Jahrhundert sein, um Shakespeare übersetzen zu dürfen.

Aber das sind nur Nebensächlichkeiten. Wichtiger ist, dass Köhlmeier einer Gesellschaft, in der das Kritisieren und Rechthaben höher geschätzt wird als die Zustimmungsfähigkeit eine andere Haltung entgegensetzt: Eben die Begeisterung, die eine grundsätzliche Offenheit und eine Zustimmungsbereitschaft voraussetzt, die das Schöne nicht nur zu entdecken, sondern mit hervorzubringen vermag.

Jörg Magenau, rbbKultur