Roman - Niviaq Korneliussen: "Das Tal der Blumen"
Es mussten fast 60 Jahre vergehen, bis der ehrwürdige Literaturpreis des Nordischen Rates nicht nach Norwegen, Schweden oder Dänemark ging, sondern in weite Ferne: nach Grönland. Die junge grönländische Autorin Niviaq Korneliussen hat mit ihrem zweiten Roman "Das Tal der Blumen" den Bann gebrochen und ihr Land erstmals in den Mittelpunkt des Interesses der literarischen Welt gerückt, nicht nur im Norden. Dabei hat sie eines der dramatischsten Probleme Grönlands aufgegriffen: die ungewöhnlich hohe Zahl an Suiziden.
Schon im Prolog legt sich eine Todesahnung über die schlichten und doch glasklar gebauten Sätze dieses ungewöhnlichen Romans: Eine junge Frau beobachtet auf einem Friedhof einen Raben, der nicht von ihrer Seite weicht: "
Sein schwarzes Gefieder glänzte, seine schwarzen Augen spähten wachsam umher, seine schwarze Seele war die einzige an diesem Ort. Ich ließ meinen Blick auf dem Vogel ruhen, und für einen Moment vergaß ich völlig, dass die Sonne, die vor einer Viertelstunde untergegangen war, in wenigen Minuten erneut hinter dem Sermitisiq auftauchen würde. Für einen Moment vergaß ich, dass alles wieder von vorn beginnen würde."
Fast jede Woche ein Tod
Die namenlose Frau schwankt zwischen einer tiefen Todessehnsucht und dem Wunsch zu leben und geliebt zu werden. Sie trauert um die Menschen, die in ihrer Umgebung Selbstmord begehen, zugleich hat sie selbst den Drang, ihnen zu folgen. Sie kann sanft und zugewandt sein, dann wieder zynisch und hart. Erst erklärt sie ihre Liebe, dann bricht sie umgehend ihre Versprechen. Mit jedem Satz spiegelt die Autorin Niviaq Korneliussen diese Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit:
"Ich schleiche mich runter auf die Terrasse und zünde mir eine Zigarette an. Das Licht der Weihnachtssterne färbt den Schnee orange. Es sieht aus wie Kotze."
Die Kapitel sind durch die kurze Erwähnung eines weiteren Suizids getrennt. Beginnend mit der Zahl 45, zählt Korneliussen runter bis zur letzten, Nummer 1. So viele Selbstmorde gibt es zurzeit im Schnitt in Grönland pro Jahr. In einem Land mit einer Bevölkerungszahl von rund 56.000 Menschen kennt immer jemand die Verstorbenen, ist verwandt, verliebt oder bekannt – und fast jede Woche kommt eine neue Todesmeldung hinzu.
Unerwartete Liebe in düsterer Atomsphäre
In diese düstere Atmosphäre setzt Korneliussen die ganz neue und zarte Beziehung der Ich-Erzählerin und ihrer ersten großen Liebe Maliina. Beide so gegensätzlich, wie alles in diesem Roman: Die Protagonistin sperrig, provokant, übergewichtig, in sich gekehrt - ihre Freundin: gesellig, herzlich, durchtrainiert und offen:
"Ich kriege es nicht hin, diese verdammte Gabel richtig zu halten, als ich ihr gegenüber an dem kleinen Tisch sitze. Ich habe das Gefühl, ich kaue zu laut und esse zu schnell. Sie stellt ihren Fuß auf meinen, und ihre Ruhe überträgt sich auf mich."
Bei Maliina findet sie zum ersten Mal Liebe, seit ihre Großmutter gestorben ist.
Nordischer Kolonialisums und Rassismus
In Grönland eckt sie schon immer an, Homophobie und Engstirnigkeit begegnen ihr täglich. Doch als sie nach Dänemark zieht, um zu studieren, sieht sie sich dem arroganten Rassismus vieler Dänen ausgesetzt, die sie sofort als indigene Grönländerin ausgrenzen: "Mitten in der Vorlesung kommt er lautlos zu mir rüber, setzt sich neben mich und schaut auf meinen Mund. Dann schreibt er etwas auf ein Stück Papier. Bist Du das, die so nach Alkohol stinkt?, steht auf dem Zettel, den er mir hinhält.“
Das Klischee des alkoholabhängigen, faulen und vulgären Grönländers verfolgt sie auf Schritt und Tritt, bis sie zurück nach Grönland flieht, zurück zu Maliina. Mit der Figur der unglücklichen, wütenden jungen Frau zeichnet Niviaq Korneliussen ein Porträt nicht nur einer Generation, sondern gleich eines ganzen Landes.
Zarte Liebeserklärung an die Grönländer
Die Folgen des dänischen Kolonialismus sind bis heute zu spüren. Vor der Kulisse der zugleich bombastischen und einengenden eisigen Natur der riesigen Insel, erzählt sie von sozialer Ungleichheit und Perspektivlosigkeit. Sie macht sich mit bitterböser Ironie über die Menschen lustig, die sich Inuit-Tätowierungen stechen lassen, um zu sich selbst zu finden oder die immer gleiche Trommelmusik hören. Zugleich webt sie unerwartet zarte Liebeserklärungen an die Menschen dieses Landes ein, wie an ihre Oma, auf Grönländisch Aanaa:
"'Wann wird Aanaa aufhören, Dich zu lieben?', fragte sie, wie sie es immer tat. 'Tulukkat qaqortippata!', rief sie aus und küsste mich auf die Stirn. Das heißt quasi niemals. Es war ihre Lieblingsredewendung. Jedes Mal, wenn ich sie in der Schulpause beim Brugsen traf, jedes Mal, wenn sie sich verabschiedete, jedes Mal, wenn ich herumkasperte, etwas Verrücktes machte, sie zum Lachen brachte, dann fragte sie, 'wann wird Aanaa aufhören, Dich zu lieben? Tulukkat qaqortippata!' Manchmal kam ich ihr zuvor und rief es selbst, und dann lachte sie und küsste mich auf die Stirn.“
Ein ungewöhnliches Kunstwerk aus dem höchsten Norden
So wie der Rabe auf dem Friedhof es zum Anfang des Romans schon andeutet: das ist kein Buch mit Happy End. So wie die junge Frau den Menschen in ihrer Umgebung das Herz bricht, so tut es auch Niviaq Korneliussen mit ihren Leserinnen und Lesern. Das tut sie allerdings auf so kluge und überraschende Weise, dass sich in die Trauer vor allem Hochachtung vor diesem literarischen Kunstwerk mischt.
Irène Bluche, rbbKultur