Inger-Maria Mahlke: Unsereins © Rowohlt
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Roman - Inger-Maria Mahlke: "Unsereins"

Bewertung:

Für "Archipel" hat Inger-Maria Mahlke 2018 den Deutschen Buchpreis bekommen. Jetzt ist ihr neuer Roman da: "Unsereins" erzählt die Geschichte einer Lübecker Kaufmannsfamilie im 19. Jahrhundert. Wer denkt da nicht sofort an Thomas Mann und die "Buddenbrooks"?

Ein Drohnenflug über Lübeck – dem "kleinsten Staat im Deutschen Reich" – eröffnet "Unsereins". Immer näher zoomt Inger-Maria Mahlke an die Stadt, die Straßen, das morgendliche Treiben, bis in die Schreibstube eines Internatsschülers heran. Das legt den Grundton für den Roman – hier wird heran- und wieder herausgezoomt, bis wieder ein großes Panoramabild entsteht.

Die Irritation einer modernen Drohnenkamera über einer Szenerie des 19. Jahrhunderts ist dabei gewollt. Inger-Maria Mahlke schaut aus der Distanz von heute auf die Lübecker Gesellschaft und hat sich dafür den Zeitraum zwischen 1890 und 1906 ausgesucht. In dieser Zeit erscheint "Buddenbrooks" von Thomas Mann. Der Schriftsteller, ein Kind Lübecks wie Inger-Maria Mahlke auch, und sein mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneter Roman, sind Teil der Handlung von "Unsereins".

"Wer-ist-Wer-im-Roman-Spiel"

Man spricht in den Lübecker Salons und bei Dinner-Partys Anfang des 20. Jahrhunderts über das Buch von Thomas Mann. Es sorgt für Aufregung , weil viele Lübecker Familien und wichtige Herren sich darin wiedererkennen. Die Buchhandlungen verkaufen Entschlüsselungslisten, das ist tatsächlich ein historischer Fakt.

"Es ist das Spiel der Saison" , sagt Friedrich Lindhorst, eine der Hauptfiguren in "Unsereins", "ein Wer-ist-wer im Roman-Spiel".

Das passiert allerdings erst im letzten Teil von "Unsereins". Anfangs taucht Thomas Mann als Schüler auf, ohne dass er namentlich genannt wird. Von allen wird er nur "Pfau" gerufen und als eitler Typ beschrieben, der sich gerne bewundern lässt. Sein Mitschüler und bester Freund Otto Grautoff ist einer dieser Bewunderer, eine historische Figur, der Jugendfreund von Thomas Mann, den dieser wiederum als Kai in "Buddenbrooks" einbaute. Wir erleben den Schüler Thomas Mann und Otto durch die Brille des Internatsschülers Georg, Otto eine "ungesunde Obession mit Thomas Mann" bescheinigt.

Inger-Maria Mahlke treibt ein elegantes, kluges Spiel mit historischem, Buddenbrooks- und fiktivem Personal und mehreren Schichten aus Fakten, Fiktion, Anspielungen und Rezeptionsgeschichte der Buddenbrooks.

Figurenkarussell und Gesellschaftspanorama

"Unsereins" ist auf einer sehr zugänglichen Ebene das Porträt der Lübecker Gesellschaft zur Kaiserzeit. Im Zentrum steht die Kaufmannsfamilie Lindhorst. Friedrich, dessen Frau und acht Kinder und seine beiden älteren Brüder. Außerdem noch ein ganzes Karussell weiterer Figuren. Vorne im Buch ist deshalb auch ein Personenverzeichnis zum Nachschlagen.

Der Roman erzählt von politischen wie wirtschaftlichen Verbindungen und Entwicklungen, vom Aufstieg der Sozialdemokratie, auch Antisemitismus wird angedeutet. Die Lindhorsts sind jüdisch und haben dadurch Nachteile, aber das wird nur angedeutet und steht nicht im Zentrum. Vor allem erzählt "Unsereins" von den engen Korsetts aus Traditionen, festen Regeln, dem Heiratsmarkt und vorgezeichneten Lebenswegen im ausgehenden 19. Jahrhundert, die vor allem den Frauen kaum Luft zum Atmen ließen.

Hier und da wehen schon Aufbruch und Wandel durchs Buch, baut Inger-Maria Mahlke Frauen ein, die studieren oder Schriftstellerin werden. Und sie interessiert sich - im Gegensatz zu Thomas Mann - auch für die unteren Schichten. Da ist zum Beispiel das Dienstmädchen Ida, das sich heimlich das Tippen und Stenografie beibringt um aus den Verhältnissen zu entkommen. "Unsereins" ist ein Wimmelbild der patriarchalen Lübecker Gesellschaft um 1900.

Beeindruckende Recherche

Inger-Maria Mahlke hat in ihren bisherigen Romanen sehr unterschiedliche Geschichten in sehr unterschiedlichen Stilen erzählt und konnte dabei schon mal sperrig sein. Keiner ihrer Romane ist gleich, sie probiert immer wieder andere Erzählgerüste aus. In "Rechnung Offen" von 2013 hat sie uns in ein Neuköllner Mietshaus mitgenommen, "Archipel" war ein rückwärts erzählter historischer Roman über Kolonialismus auf Teneriffa. Mit "Unsereins" wirft sie uns jetzt in die Klassengesellschaft der Kaiserzeit an der Schwelle des 20. Jahrhunderts. Dabei fühlt man sich manchmal wie in der Fernsehserie "Downton Abbey" über eine adlige Familie und ihre Dienerschaft mit verbotenen Lieben, Seilschaften, Toden und Hochzeiten. Gleichzeitig ist "Unsereins" ein klug konstruierter neuer Blick auf die "Buddenbrooks".

Außerdem beeindruckt der Roman durch seine akribische Recherchearbeit und einen Reichtum an Details, ob es nun Senatsverhandlungen über einen Kanalbau oder Wasserklosetts für alle sind oder Eintrittspreise der Warmbadeanstalt und Farbe und Beschaffenheit von Kleidern. Das verkommt aber nie zur reinen Kulisse, sondern macht den Alltag jener Zeit mit all seinen Zwängen sehr greifbar.

"Unsereins" ist ein pralles und sattes Gesellschaftspanorama voller Ironie und Humor mit vielen Schichten unter der Oberfläche.

Nadine Kreuzahler, rbbKultur