Paul Auster: Baumgartner © Rowohlt
Rowohlt
Bild: Rowohlt Download (mp3, 8 MB)

Roman - Paul Auster: "Baumgartner"

Bewertung:

Paul Auster, einer der bekanntesten amerikanischen Schriftsteller, hat über 30 Bücher geschrieben, die in rund 40 verschiedenen Sprachen übersetzt wurden. Sein neuer Roman "Baumgartner" handelt von einem alternden Professor, der sich mit dem Thema des altersbedingten Verfalls und Phantomschmerzen auseinandersetzt.

Eigentlich will er am Morgen nur ein Buch aus dem Erdgeschoss holen, um weiter an seinem Buch über Kierkegaard zu schreiben, aber am Ende des Tages liegt Baumgartner mit verbranntem Finger, lädiertem Knie und schmerzender Schulter auf dem Sofa.

Eine fast slapstickartige Verkettung von Unfällen, in die ein glühender Eiertopf, ein Stromableser und eine Kellertreppe verwickelt sind, steht am Anfang von Paul Austers neuem. Bei aller Absurdität schwebt über dieser Ouvertüre die Melancholie - die des Älterwerdens, denn Baumgartner hat mit Vergesslichkeit und einem schwächer werdenden Körper zu tun und der ständigen Frage, wie viel Zeit ihm noch bleibt.

Die Architektur des Textes ist ein einziges Gedankengebäude

"Baumgartner", dieser schlichte und einfache Titel ist, wenn man das Buch gelesen hat, der konsequenteste und einzig denkbare. Als junger Autor hätte Paul Auster das wohl nicht gewagt: Erzählfäden, die gesponnen und dann wieder liegengelassen werden, ein abruptes Ende, assoziativ eingeschobene Episoden. Die Architektur des Textes ist ein einziges Gedankengebäude: Die Statik wird allein von Baumgartners Denken, Fühlen und seinen Erinnerungen bestimmt. Das trägt - aber nur, wenn man sich auf das Sprunghafte und Elliptische einlässt.

In einigen Rezensionen hat dieses dramaturgische Wagnis Austers auch schon zu Kritik geführt, dabei zeigt es die Souveränität und Gelassenheit eines Autors, der auf Erzählexpertise und einen epischen Fundus an Geschichten zurückgreifen kann. Auch aus seinen eigenen Büchern zieht Auster hier immer wieder Motive und Schlüsselmomente heraus: die symbolhafte verschlossene Kammer unter der Erde zum Beispiel ("Nacht des Orakels"), eine Frau namens Anna Blume (eine Anspielung auf Kurt Schwitters, die er u.a. schon in "Im Land der letzten Dinge", "Reisen im Skriptorium" und "Mond über Manhattan" verwendet hat), der plötzliche Tod eines Menschen, der durch Naturgewalten – oft ist es ein Blitz, hier eine Monsterwelle – aus dem Leben gerissen wird.

Eine autobiografische Liebesgeschichte

Und wie so oft in Austers Büchern begegnet man auch dem Autor selbst, in abgewandelter Form, wie durch Milchglas schimmert sein eigenes Leben hervor. Auster teilt mit seinem Princeton-Professor Sy das Lebensalter und das akademische Umfeld. Einige eingeschobene Erinnerungen sind seine eigenen, so zum Beispiel eine Reise in die Ukraine vor einigen Jahren.

Vor allem anderen aber ist "Baumgartner" eine Liebesgeschichte, die Geschichte einer langen Lebensliebe. Diese Erfahrung, jemanden über Jahrzehnte hinweg zu kennen, zu lieben, zu schätzen, sich gegenseitig zu beflügeln und begleiten, ist nichts als autobiografisch: Wer an Paul Auster denkt, denkt an Siri Hustvedt, umgekehrt ist es genauso. Ihre Werke, ihr Denken und Handeln sind miteinander verknüpft, so haben sie es in Interviews immer wieder selbst erzählt.

Nachdenken über Leben, Sterben und Tod

Siri Hustvedt hat vor etwa einem Jahr Austers Krebserkrankung bekannt gegeben. Sie begleitet ihn durch das, was sie in einem ihrer Instagram-Posts als "Cancerland" bezeichnet. Wenn man von Austers Krankheit weiß, liest man sie unweigerlich als Tonspur mit. Sie lässt sich nicht abstellen. Bei jedem Nachdenken Sys über das Leben, das Sterben, den Tod. Paul Auster hat das Buch fertig geschrieben, als er bereits erkrankt war.

Die Angst, den Lebenspartner zu verlieren, die Gefährtin oder den Gefährten, hat Paul Auster in "Baumgartner" durchgespielt: Sys Frau Anna, eine Dichterin und Übersetzerin, ist zehn Jahre zuvor ums Leben gekommen. Er fühlt sich wie amputiert seither. Schreibt über das Phantomschmerz-Syndrom, das er umbenennt in "Phantommensch- Syndrom". Es gibt neue Liebeleien, sogar eine neue Liebe. Aber Annas Arbeitszimmer hat er unverändert gelassen. Und als eines Nachts das abgekappte Telefon klingelt, ist Anna dran und berichtet ihm aus dem Reich der Toten. Ein Traum, ist sich Sy am nächsten Morgen bewusst. Aber das spielt keine Rolle für ihn. Denn der Anruf aus dem Jenseits, ob real oder nicht, ist allein schon dadurch wahr, weil er etwas verändert und bewegt und zu einem wichtigen Handlungsmotor wird.

Emotionale Wahrheit

Eine starke Szene, der Glutkern dieses Romans. Weil sie eine große Frage und einen Schreibimpuls Paul Austers symbolisiert: Wie definiert man "Realität"? Wem oder was schenken wir Glauben?

"Mangels jeglicher Fakten, die die Geschichte als wahr oder falsch erweisen könnten", steht an einer Stelle, "glaube ich dem Dichter". Auster formuliert damit das Zentrum seines Schreibens, das Herz des Austerschen Kosmos. Der Anruf seiner verstorbenen Frau wird für Sy zu einer "emotionalen Wahrheit, die auf lange Sicht das Einzige ist, was zählt".

Es geht hier um nicht weniger als die bewegende Kraft von Geschichten, den Effekt, den sie haben können. Menschen können durch "die in einem Roman erzählten fiktiven Begebenheiten verwandelt werden", denkt Baumgartner. Das gilt auch für diesen neuen Roman von Paul Auster.

Anne-Dore Krohn, rbbKultur