Essays und Reden - Daniel Kehlmann: "Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken"
Daniel Kehlmann ist nicht nur einer der berühmtesten und erfolgreichsten Autoren hierzulande, er ist auch ein großer Leser und Lobredner. Davon kann man sich jetzt anhand eines Sammelbandes mit Preisreden, Laudationes und Vorträgen aller Art überzeugen. Von Hölderlin bis zu George Orwell, von Ludwig Börne bis zu Salman Rushdie reicht sein Repertoir. Aber es gibt auch Filmkritiken und Beiträge über Trump und Künstliche Intelligenz – also Beiträge genug, um den Bestsellerautor als Rühmenden und als kritischen Intellektuellen zu erleben. "Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken" lautet der Titel seines neuen Buches.
Die Fähigkeit zu rühmen, ist eine besondere Kunst. Gabriel García Marquez, zum Beispiel, wäre mit seinem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" womöglich nicht so schnell berühmt geworden, wenn er nicht von Carlos Fuentes und Mario Vargas Llosa entdeckt und bekannt gemacht worden wäre. Vielleicht, so vermutet Daniel Kehlmann, zeigt sich die Größe eines Schriftstellers genau daran, wie er über andere Schriftsteller spricht oder schreibt. Einen noch größeren vor allen anderen in seiner besonderen Einzigartigkeit zu erkennen und zu rühmen, setzt nicht nur eine gewissen Neidfreiheit voraus, sondern auch Neugier und ästhetisches Feingefühl. Das sind Eigenschaften, die auch auf Kehlmann selbst zutreffen, wie ein Band mit seinen gesammelten Essays, Laudationes, Preis- und Dankreden und aus den letzten zehn Jahren nahelegt.
Kehlmann beim Denken zusehen
Auch Kehlmann ist groß im Rühmen. Von Hölderlin über Franz Werfel bis zu George Orwell, von Karl Kraus bis zu Helmut Krausser, von Ludwig Börne über Heimito von Doderer bis zu Salman Rushdie reicht seine Entdeckungsfreude. Dazu gibt es Texte über Donald Trump, Künstliche Intelligenz, das KZ Mauthausen, wo sein Vater Häftling war, Filmkritiken und einen Vortrag über die Macht der Bilder, den er zur Eröffnung einer Ausstellung im Frankfurter Städel-Museum gehalten hat.
Dieser Vortrag über Malerei ist besonders aufschlussreich – nicht nur deshalb, weil Kehlmann von der Betrachtung einzelner Bilder schließlich bei der Frage landet, was Materie eigentlich ist, wenn sie, wie die Quantenphysik lehrt, vor allem aus Nichts, aus leeren Zwischenräumen besteht. Der Vortrag ist auch deshalb so anregend, weil man Kehlmann hier – und das gilt auch für andere Texte – beim Denken und beim allmählichen Verfertigen der Gedanken zusehen kann. Wenn es stimmt, was er über den Philosophen Leibniz sagt, "dass Philosophen gerade in ihren abstraktesten Sätzen von sich selbst sprechen", dann gilt das auch für ihn.
Wenn er über Justus Junckers "Stillleben mit Apfel und Insekten" schreibt, frappiert ihn zunächst die Einfachheit des Dargestellten. Doch aus dieser Empfindung entsteht sofort der Gedanke: "Gerade weil das Ding so einfach ist, wird der Abbildungsprozess auf sich selbst zurückgeworfen, das Stillleben zeigt gewissermaßen das Malen selbst, den Vorgang, durch den aus dem einfachen, ausgedehnten Ding ein farbiges Konstrukt in unserem Bewusstsein wird."
Auch Kehlmanns Vorträge sind einfach. Er beginnt gerne mit einer Anekdote oder Beobachtung, um den jeweiligen Gegenstand von da aus unmerklich zu vertiefen. So beginnt er die Dankrede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises mit der Klage eine Zensors, der sich vom Spott des Zensierten gedemütigt fühlte. Indem er die Epoche der Restauration umreißt, in der Börne leben musste, gelangt er zu einer Erkenntnis, an die man sich in der Gegenwart der 2020er Jahre wieder gewöhnen muss: "Der Fortschritt kann einfach so aufgehoben werden, von einem Tag zum nächsten; wenn man will, und die Macht hat, dann geht das."
Wahrheitssuchende, eindringliche und doch so einfache Geistesoperationen
Kehlmann ist nicht das, was man früher einen "engagierten Intellektuellen" genannt hätte. Er mischt sich nicht ins Politische ein und ist doch in jedem seiner Texte politisch – einfach dadurch, weil er klug ist und Dinge und Verhältnisse zu analysieren versteht. Daraus ergibt sich zwangsläufig, nicht auf der Seite der Mächtigen zu stehen, heißen sie Trump oder Elon Musk oder Sam Altman, der Großwesir der Künstlichen Intelligenz. In einer Epoche, in der Dummheit und Desinformation überhandnehmen, hat bereits der selbstbestimmte Gebrauch der eigenen Vernunft eine politische Dimension und einen tröstlichen Effekt.
Es ist wohltuend, einem klugen Menschen beim Denken zuzusehen. "Die Wirklichkeit ist ein Labyrinth, dessen Verwinkelungen wir nicht verstehen, aber darstellen können. Dafür gibt es die Kunst", schreibt Kehlmann. Dafür gibt es auch das Nachdenken über Kunst und Literatur als besondere Modi des Verstehens und In-der-Welt-Seins. Kehlmanns wahrheitssuchende, eindringliche und doch so einfache Geistesoperationen helfen dabei.
Jörg Magenau, radio3