Kunstband zum Thema Reisen - Christoph Niemann: "Away"
Viele Jahre hat der 1970 geborene Grafiker und Illustrator Christoph Niemann in New York gelebt und mit seinen Bildern die Titelblätter vom "New Yorker" und dem "New York Times Magazin" in kurios-komische Kunstwerke verwandelt. Inzwischen lebt Niemann in Berlin und präsentiert seine Arbeiten im "ZEITmagazin" und in eigenwillig-wunderschönen Büchern. Niemann ist auch ein notorisch Reisender. Aber zum Glück dürfen alle, die seine Kunst lieben, mitreisen! In seinen Aquarellen, die er in seinen Büchern versammelt, zeigt er uns, was er unterwegs erlebt, sieht und empfindet. "Souvenir" nannte er eines dieser gemalten Reisemagazine, sein neues trägt den Titel "Away".
Christoph Niemann entführt uns nach Mexiko, Spanien und Südamerika, Vietnam und Indien, Neuseeland und Brasilien, er badet im Mittelmeer, geht am Strand von Sylt spazieren und blickt von Rhodos übers weite Meer. Es zieht ihn dorthin, wo es hell und sonnig ist, der schnöde Alltag, die besorgten Menschen, die in die Landschaft gewuchteten Bauwerke etwas Leichtes und Luftiges bekommen, eine mysteriöse Durchlässigkeit und geheimnisvolle Schwerelosigkeit.
Die Welt, wie sie sein könnte, mit lockeren Pinselstichen gezeigt
Das Wundersame ist aber, dass er diese Leichtigkeit, Durchlässigkeit und Schwerelosigkeit auch im Gewusel und Gewimmel einer Megacity wie Mumbai, in den von Betonklötzen entstellten Städten wie Bukarest oder in hektischen, von Highways zerschnittenen Metropolen wie Sao Paulo findet.
Niemann zeigt uns die Welt nicht, wie sie ist, sondern sein könnte und sein sollte, wenn man sie mit seinen Augen sieht und seinem lockeren Pinselstrich folgt. Er schafft es auf rätselhafte Weise, die oft grotesken Dinge der Welt ohne jede Boshaftigkeit zu betrachten und die uns umgebende geistlose, tote Materie in leichtfüßig tänzelnde, geradezu abstrakte Schönheiten zu verwandeln.
Bestseller-Autor Daniel Kehlmann singt in seinem Vorwort eine Hymne auf die künstlerische und stilistische Perfektion und meint, Niemann erschaffe mit seinen Bildern ein "Paralleluniversum der Eleganz". Und er hat recht.
Abstrakt-impressionistische Wunderwerke
Niemann gelingt das, weil er dem Schäbigen und Trostlosen mit Augenzwinkern begegnet, er blickt scharf und kritisch und ist zugleich milde und versöhnlich gestimmt und erfasst alles, was er sieht und dabei empfindet, mit wenigen Strichen und Tupfern, die das Gesehene und Erfundene zu einem abstrakt-impressionistischen Wunderwerk machen.
Er entscheidet sich bei jedem seiner annähernd 150 Aquarelle immer für ein, zwei, höchstens drei Farben, um das Wesen der Dinge zu erfassen und das Tor zur Fantasie zu öffnen. In Andalusien sieht man einen Mann auf einem kippligen Stuhl, sein Blick ist auf ein maurisches Bauwerk geheftet, dessen Türen und Fenster vergittert sind. Die Mauern des Hauses sind in rosafarbene Töne getaucht, der Mann und sein unbequemer Stuhl sowie die perspektivisch ins Unendliche weisenden Gitter zerfließen in Schwarzgrau.
Die Bäume am Ufer des Mekong, die Passagiere, die mit Fahrrädern und Motorrollern auf der Fähre versammelt sind und den Fluß überqueren wollen, die Planzen, die im Wasser treiben, alles verschmilzt zu einer flirrenden, betörenden Farblandschaft. Das blaue Kleid der Frau fließt in das Blau der vielen Stufen, die sie in praller Sonne erklimmen muss, um zu einem blauen Castell in Palma de Mallorca zu kommen. Das Häusermeer, die verstopften Straßen, die verschmutzte Luft: In Mumbai verknäult sich alles in ein psychedelisch bekifftes Licht aus sattem Lila und sanftem Ocker. New York, die Stadt, die angeblich niemals schläft, dämmert müde gähnend in einem Nebel aus wässrigen, grau-blauen Farben. Und es sieht fast so aus, als würde der rotbefleckte Eiffelturm in der dunkelblauen Nacht von Paris in Flammen zu stehen.
Berlin als unwirklicher, rätselhafter Ort
Wenn Niemann ausnahmsweise mal zu Hause in Berlin ist, verirrt er sich im Rolltreppen-Labyrinth vom Bahnhof Friedrichstraße, taucht alle Treppen und Laufbänder, Schilder und Säulen in nachtdunkles Blau, nur ein einziger Mensch, ein einsamer Mann, sucht mit dem Handy nach dem richtigen Weg in diesem Abgrund der Orientierungslosigkeit.
Auf einem anderen Bild stapft eine frierende Gestalt stoisch durch den Berliner Regen und ist in seiner traurigen Schwärze kaum noch von seiner düsteren Umgebung zu unterscheiden; einmal schaut er auf eine abweisende Häuserfront, über der sich dunkelgrüne Gewitterwolken zusammenballen; den Funkturm am Alexanderplatz sieht er im grauen Nebel als ein vages Schema unter einem seltsam pinkfarbenen Himmelszelt und in der Philharmonie blickten die Zuhörer - als anonyme lila Tupfer - auf das leere Podium und einen aufgeklappten Flügel, an dem niemand sitzt. Ob in dieser lilafarbenen Höhle irgendwann noch Musik erklingen wird, mag man fast ein wenig bezweifeln: Berlin, so scheint es, ist für Niemann ein ziemlich unwirklicher und rätselhafter Ort.
Fernweh aus dem Tuschkasten
Bis kurz vor dem Ende der Bilderflut lässt er die Reiseeindrücke für sich sprechen, dann aber gibt er eine Zugabe, nennt sie "Heimreise" und beschreibt in ironisch-fröhlichen Notizen, wie ein paradiesisch beginnender Kurztrip nach Venedig zu einer Odyssee mit Flugausfällen und Zugverspätungen wurde. Eine Reise in rötlich-gelben Farben, das Licht flackert, die Sinne rauschen, die Menschen wandeln schwerelos durch die Gassen von Venedig, selbst bei Regen sieht die Serenissima grandios aus, doch dann wird er mit seiner Frau aus dem Garten Eden vertrieben und landet hart auf dem Boden der Realität: die Flüge gestrichen, die Züge verspätet, die Verbindungen geplatzt. Da hilft nur: Geduld bewahren und den Farbkasten herausholen. Als endlich, nach langer Ungewissheit, der Flieger von Salzburg, wo das Ehepaar gestrandet war, nach Berlin abhebt, notiert Niemann: "Obwohl ich viel Zeit hatte, war ich zu faul, mir Wasser für die Tusche zu holen und benutzte die Reste meines Obstsalats."
Ja, warum auch nicht: Die Reisebilder sehen trotzdem toll aus! Am liebsten würde man selber gleich los düsen und dem Grau und der Kälte entfliehen. Aber den Tuschkasten nicht vergessen: Man weiß ja nie, was einen unterwegs erwartet!
Frank Dietschreit, radio3